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Interview mit Historiker Paul Ginsborg"Italiener meckern gern über den Staat"

Die italienische Linke tut sich bis heute schwer, eine Position gegenüber Berlusconi zu finden. Der Historiker Paul Ginsborg über Versäumnisse der Opposition und die Zukunft Italiens.

Silvio Berlusconi muss sich seine Macht nicht teilen - für viele Italiener gibt es keine Alternative. Ginsborg nennt es "Tyrannenherrschaft". Bild: dpa
Michael Braun
Interview von Michael Braun

taz: Herr Ginsborg, Ihr Buch heißt "Italien retten" - ein Titel, der das Bild von einem Land am Abgrund nahelegt. Ist die Situation wirklich so dramatisch?

Paul Ginsborg: Ich wollte kein katastrophales Bild entwerfen. Im Gegensatz zu anderen Büchern, die in letzter Zeit auf den Markt kamen, ist meines ein Buch voller Vorschläge, am Ende sogar voller Hoffnung. Es ist ein Buch gegen den Strom, wie ich schon im Vorwort darlege, gegen alle Freunde und Kommentatoren, die Italien schon als erledigt betrachten. Ich habe einigermaßen die Nase voll von jenen, die immer nur das Schicksal des Landes bejammern. Ich frage nach möglichen Lösungen, ohne die Tiefe der Krise zu verschweigen.

Niedergang und Dekadenz sind zwei Schlüsselwörter, wann immer in den letzten Jahren über Italien räsoniert wurde, und ein weiteres ist selbstverständlich Berlusconi. Welchen Zusammenhang gibt es da?

Der Niedergang ist unbestreitbar, und ich rede da absolut nicht nur von der Wirtschaft. Weitere Kriterien sind "das gute Leben" und die Regeln, die moralische Verfassung Italiens. Jedoch gehen ökonomischer und moralischer Niedergang Hand in Hand. Bevor wir über Berlusconi reden, ist festzuhalten, dass die Mitte-links-Parteien in den Jahren ihrer Regierung (wie von 1996 bis 2001) in gravierender Weise ihre Gelegenheit verspielt haben. So haben sie es versäumt, in Schulen und Universitäten, sprich: in die Zukunft zu investieren. Aus 22-jähriger Erfahrung als Professor sage ich: Auf diesem Feld bietet sich uns ein Desaster.

PAUL GINSBORG

Professor: Geboren 1945 in London, hat seit 2009 auch einen italienischen Pass. Seit 1992 in Florenz, wo er Europäische Gegenwartsgeschichte lehrt.

Protest: 2002 gehörte er zu den Initiatoren der "Girotondi", der ersten großen Welle zivilgesellschaftlicher Proteste gegen Silvio Berlusconi.

Buch: In seiner Schrift "Italien retten" (auf Deutsch bei Wagenbach, 2011) schlägt Ginsborg den Bogen von den Vorkämpfern der italienischen Einheit bis zur Gegenwart. Er will die in der Tiefenstruktur der Nation angelegten Defizite ebenso wie ihre Stärken herausarbeiten, die es "lohnend machen" würden, Italien zu retten.

Und Berlusconi?

Er ist der andere Aspekt der Krise, eine Person mit einem Blick auf die Politik, der sehr wenig mit der Demokratie, sehr viel dagegen mit alten italienischen Untugenden zu tun hat wie Klientelismus, Familismus, fehlenden Respekt für die Gesetze, der Idee auch, er könne persönliche Probleme lösen, indem er dutzende Gesetze "ad personam" durchboxt.

In Ihrem Buch sprechen Sie gelegentlich gar von "Diktatur", von "Tyrannenherrschaft". Ist das nicht überzogen?

Nein, ich denke, wir sind an diesem Punkt in Italien. Tyrannenherrschaft beschreibt, was Berlusconi will: Herrschen unter Konzession nur der geringsten Bewegungsspielräume für die Opposition. Berlusconis Busenfreund und Chef seiner Medienholding, Fedele Confalonieri, sagte das schon 1994 ganz ungeschminkt, als Berlusconi in die Politik eintrat: Berlusconi sei kein Demokrat, sondern ein "aufgeklärter Despot". Formal ist Italien demokratisch. Ich kann Oppositionszeitungen kaufen, kann wählen gehen. Doch was ist der generelle Kontext? Wie viel zählt ein Oppositionsblatt gegenüber Berlusconis Kontrolle von sieben TV-Kanälen? Berlusconis unbegrenzte Finanzmittel führen dazu, dass die Wahlen eben nicht mehr "frei, fair und regulär" sind.

Aber selbst scharfe Kritiker können nicht bestreiten, dass Italien von einer offenen Diktatur noch weit entfernt ist?

Es ist vor allem den Oppositionsbewegungen zu verdanken - auch den wenigen Künstlern und Intellektuellen, die Widerspruch einlegen -, dass Berlusconis Design bisher nicht komplett aufging. Für das Gros der italienischen Intellektuellen müssen wir aber Zynismus und Passivität verzeichnen. Immerhin meldete sich schon 2002 Nanni Moretti zu Wort, doch wie viele Regisseure haben es ihm gleichgetan? Gott sei Dank meldete sich auch Claudio Abbado, doch wie viele aus Musik und Theater erhoben seither ihre Stimme? Italien hat mutige Richter und Staatsanwälte. Diesen ist es zu verdanken, wenn Berlusconis Despotismus gleichsam im Zentaurenstadium verharrt und noch nicht zum galoppierenden Pferd geworden ist.

Aber wie kommt es, dass ein skandalöser Politiker wie Berlusconi immer wieder gewählt wird?

Das ist ein Punkt, den ich in meinem Buch anspreche. Berlusconi repräsentiert in einem Land, in dem kleine Unternehmer weiter stark präsent sind, den bewunderten Selfmademan, der aus kleinen Anfängen heraus den Aufstieg packt. Für Italien ist der kleine, ja kleinste Unternehmer typisch. In deren Augen ist der Staat ein "Feind", der der ungezügelten Akkumulation entgegensteht. Dann sind da noch die Hausfrauen mit mehr als drei Stunden TV-Konsum, die massiv Berlusconi wählen. Und im Norden wählen ihn nicht nur die Unternehmer, sondern auch die Arbeiter, die in den Miniunternehmen beschäftigt sind. Und schließlich gibt es die konservativen Katholiken, die ihn womöglich nicht perfekt finden, ihn aber nach dem in Italien tief verankerten Motto bislang wählen: besser er als die Kommunisten.

Der parlamentarischen Opposition werfen Sie in Ihrem Buch "Ideenarmut" vor. Auf was zielen Sie damit?

Vorneweg meine ich das völlige Fehlen einer Analyse des Berlusconismus. Die frühere Kommunistische Partei war gewiss alles andere als perfekt. Doch wenn die KPI mit tiefen wirtschaftlichen, kulturellen oder politischen Veränderungen im Land konfrontiert war, organisierte sie immerhin große Tagungen, um die Phänomene zu begreifen. Die heutige Demokratische Partei und vor ihr die Linksdemokraten unter Massimo D'Alema versteiften sich geradezu darauf, die Augen vor dem Novum Berlusconi zu verschließen. Ich erinnere mich an eine furiose Diskussion mit D'Alema 2002 in Florenz. Ich vertrat die Auffassung, wir hätten es mit einem Regime mit deutlich antidemokratischen Zügen zu tun. D'Alema antwortete voller Herablassung: "Ich arbeite gut mit Berlusconi, wir werden zusammen die Verfassung ändern." Nie wurde Berlusconi als Phänomen begriffen, das außerhalb der demokratischen Regeln stand. Stattdessen wurde er als "normaler" Regierungs- beziehungsweise Oppositionschef gehandelt.

Zugleich lässt sich ein hohes Maß an Sprachlosigkeit zwischen der politischen und der gesellschaftlichen Opposition gegen Berlusconi verzeichnen.

Da sprechen wir aber nicht von einem italienischen, sondern von einem weltweiten Phänomen. Die Parteien sind überall in der Krise. Egal ob wir auf die Zahl ihrer Mitglieder schauen, auf das ihnen entgegengebrachte Vertrauen oder die Wahlbeteiligung - die Zahlen belegen einen Trend zur Abwendung. Zugleich sehen wir aber auch gegenläufige Entwicklungen. Die Zivilgesellschaft hat bei den Bürgermeisterwahlen in Mailand und Neapel eine große Rolle beim Sieg der linken Kandidaten gespielt. Und auch Nichi Vendola, Chef der Linkspartei SEL, ist ein Politiker, der der Zivilgesellschaft zuhört.

In Ihrem Buch sprechen Sie von den Ressourcen der italienischen Gesellschaft und stufen Italien als "sanftmütige Nation" ein. Was meinen Sie damit?

Frankreich oder Großbritannien leben von einem gleichsam ererbten Gefühl der Überlegenheit, das ich oft übertrieben finde. Wenn wir über die Tugenden von Nationen reden, in diesem Zusammenhang von den Tugenden Italiens, dann kann der Diskurs über die Sanftmut hochinteressant werden. Das ist ein enormer Beitrag, gerade in dieser Zeit des Übergangs. Wie kommt es, dass der erste Staat, der die Todesstrafe abschaffte, schon am Ende des 18. Jahrhunderts das Großherzogtum Toskana war - ein Akt, zu dem die USA sich bis heute nicht in der Lage zeigen. Oder nehmen wir Giuseppe Garibaldi, den Helden der italienischen Einheit vor 150 Jahren. Als er den Schriftsteller Giuseppe Manzoni traf, überreichte er ihm nicht etwa ein Schwert oder eine Nationalfahne, sondern - einen kleinen Blumenstrauß, ein Symbol der Sanftmut, auch der Demut. Ein Bismarck war nicht mit Veilchensträußen unterwegs, nicht wahr?

Eine weiterer Reichtum Italiens ist in Ihren Augen das "Land der 100 Städte". Also das Land mit einer tief verankerten regionalen Selbstverwaltung.

Dieses Land der tief verankerten Selbstregierung hat nichts mit der Lega Nord zu tun, die die Sonderinteressen des reichen Nordens vertritt. Nicht umsonst haben Berlusconi und die Lega Nord an der Regierung die Handlungsspielräume der Kommunen weiter eingeengt. Die Selbstregierung im wahren Sinne des Wortes, wie sie von Carlo Cattaneo im 19. Jahrhundert theoretisiert wurde, gehört nicht zu den Themen der Lega Nord; auch sie denkt nur in Kategorien des Kommandos von oben.

Ein weiteres Plus Italiens sei die tief proeuropäische Haltung seiner Bürger, sagen Sie. Zugleich stellen Sie fest, Italien sei "passiv proeuropäisch"?

Italien kann sehr viele Ideen zu einem wirklich geeinten Europa beitragen. Die Italiener reden gern sehr schlecht über ihren Staat. Sie leben mit der Tatsache, dass viele positive Entwicklungen - wie die Gleichstellungspolitik - gleichsam über den Umweg Europa zu ihnen gekommen sind. Das ist sehr vielen auch bewusst, und sie sind Europa zutiefst dankbar. Der Prozentsatz der Italiener, die an den europäischen Wahlen teilnehmen, ist nicht umsonst überdurchschnittlich hoch. Italiens Politiker könnten sich dies zunutze machen. Nicht umsonst spreche ich in meinem Buch immer wieder von Carlo Cattaneo, dem Mailänder und Schweizer - er lebte im Exil in Lugano -, der sagte: "Italien wird dann frei sein, wenn die Vereinigten Staaten von Europa Wirklichkeit geworden sind".

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