Interview mit Christoph Schlingensief: "Verdammt glücklich"
Gott ist ein schweinischer Künstlerarsch mit manchmal grausamen Plänen. Christoph Schlingensief über Religion, das Arbeiten in anderen Kulturen und das Diktiergerät als Mülleimer.
taz: Herr Schlingensief, Sie planen einen neuen Aufbruch: ein Festspielhaus in Afrika zu gründen. Wollen Sie wieder nach Namibia?
Christoph Schlingensief: Nein. An das Projekt denken wir schon seit über einem Jahr. Da wir Afrika sowieso beklauen, wäre es an der Zeit, dies offiziell zu tun. Also ein Haus zu gründen, das sich offen dazu bekennt: Wir klauen euch was weg, was wir nicht haben. Die Idee ist, Probenräume zu bauen, die von Regisseuren und Schauspielern, Künstlern, Musikern nicht nur aus Deutschland für vier Wochen angemietet werden, um dann ihr "Käthchen von Heilbronn" an einem Ort zu proben, wo das normalerweise nicht stattfände.
Wozu soll dieser Aufwand gut sein?
Ich habe das selber erlebt, dass plötzlich die Gedanken, die man immer in den Theaterkantinen wälzt oder in den Schreibstuben, durch die Überlagerung mit einer anderen Umgebung eine neue Dimension erhalten.
Gibt es schon einen Ort dafür?
Mali, Tansania oder Kamerun sind bereits im Gespräch. Mali ist das Land mit den größten Lehmbauten und Lehm ist ein tolles Material. Wenn man sich vorstellt, man würde das Opernhaus von Bayreuth in Lehm nachbauen, dann sähe man mal, was das für ein Fake ist.
Sie haben in den letzten Jahren oft in abenteuerlichen Kontexten produziert: Eine Oper in Manaus, in Namibia gefilmt, in Nepal. Warum ist es für Sie wichtig, sich immer wieder anderen Kulturformen auszusetzen?
Was passiert mit mir an einem anderen Ort, die Frage beschäftigte mich schon mit 16. Ich wollte in den Kartoffelferien immer weg. Wir sind nach Münstereifel, fast ein Stunde Autofahrt, ohne Eltern.
Die erste Station für eine größere Reise kam durch meine damalige Freundin Tabea Braun, deren Vater in Südafrika als Missionspriester gewesen war. Tabea ist da geboren. Sie sagte mir immer, du musst da mal hin. Dann bin ich 1993 nach Simbabwe geflogen, weil es in Harare die Möglichkeit gab, ein Kopierwerk zu benutzen, das mit europäischen Geldern zur Förderung der Filmindustrie in Simbabwe unterstützt wurde. Ich war baff, wie mich das ansprang. Eine Kraft, die ich nicht beschreiben kann. Etwas Spirituelles stellte sich ein. Es war so, als hätte ich die sicheren Stadtmauern verlassen. Das ganze Getue hier oder diese kranke Beziehung zur Dritten Welt war plötzlich ein Angriff gegen die eigenen Sicherheitsbestrebungen. Sozusagen ein liebevoller Angriff. Lange überfällig.
Das hat ihre Perspektive verändert?
Seitdem frage ich mich oft, was mache ich hier überhaupt. Mit geht es gut, ich bin versorgt, ein bisschen Aufruhr ist auch da; aber das Leben dort hat mich ganz anders angesprungen. Der Film, den wir machen wollten, ging brachial in die Hose, der Geheimdienst war hinter uns her, wir wurden festgenommen. Wenn es Nachrichten gibt, die mich aus dem Schlaf reißen, ist das alles über Simbabwe, vor allem über Mugabe. Ich bin kein Verfechter von Hinrichtungen, aber wenn dieser Typ einfach eines Morgens nicht mehr da wäre …
Im HAU in Berlin zeigen Sie gerade in der Ausstellung "Fressen oder Fliegen" Teile ihres Filmmaterials aus Namibia von 2005, aber in einer sehr eigenartigen Projektion, flackrig und ausgefranst.
Wir sind mit dem Fernglas über die Leinwand gefahren.
Oft sieht man Sie da als Regisseur ratlos im Bild, die Geschichten verändern sich ständig.
Man kommt mit einigen Vorstellungen in Namibia an und denkt, die Missstände der Kolonialzeit und einige Hereros sollten vorkommen. Dann geht es um eine Abarbeitung von Bayreuth, nur ist es hier nicht die Familie Wagner, sondern die Familie Bach, die besitzen die Bachquelle und wollen damit die Opernfestspiele der Tochter Katharina Bach aufbauen. Das sind erkennbare, auch ironische Momente. Wonach ich suche, sind aber die Momente, deren Funktion ich selbst nicht genau erkennen kann. Bin ich vielleicht da, weil ich Angst davor habe?
Im HAU heißt ihre Installation "Stairway to heaven", und tatsächlich kann man mit einem Treppenlift durch das Filmbild fahren, sieht es dabei aber nicht. Ist das eine Metapher, dass man das Bild, in dem man selbst drin ist, nicht sehen kann?
Auf den Treppenlift hat mich meine Mutter gebracht, die hat einen in ihrem Haus, der geht ziemlich langsam. Sie sagte nach der ersten Testfahrt, das ist aber langweilig, mach mir mal ein paar Bilder an die Wand. Das habe ich gemacht und gedacht, so stelle ich mir eine Himmelfahrt vor.
Vor zehn Jahren haben der Schauspieler Bernhard Schütz und ich immer gerufen: "Der Raum überprüft uns und nicht wir den Raum." Und so ist das auch, wenn man auf dem Lift durch das Filmbild fährt. Der Film beobachtet uns, nicht wir den Film.
Anfang des Jahres konnte man von Ihnen lesen, dass Sie dem Theater den Rücken kehren, um mehr bildende Kunst zu machen. Mir scheint aber, dass Sie in jedem Medium die Verlaufsform Zeit brauchen, nur ohne klar definierten Anfang und ohne Ende.
Ich habe weder Film noch Theater verlassen. Ich habe nur deren Beschränktheit kritisiert. Die Dramaturgie ist weder das Glotztheater noch der kleine Filmrand. Das Ganze hat ständig miteinander zu tun. Es scheint mir mittlerweile so, dass die Beschränktheit dieser Mittel einen anderen dramaturgischen Rahmen verlangt.
In den Ausstellungen arbeite ich deshalb auch dramaturgisch, selbst wenn jeder, der kommt, etwas anderes wahrnimmt. Das ist eine Inanspruchnahme aller Mittel, auch des Zweifels. Ob ich das Richtige finden werde, weiß doch kein Mensch. Das finde ich jetzt bei der Finanzkrise so einen Wahnsinn, wie viel Werbung geschaltet wird von neuen Experten, die jetzt wissen, wo wir unseren Fond eröffnen sollen.
Waren Sie dieses Jahr auf dem Art Forum, wo eine Arbeit von Ihnen ausgestellt war?
Nein, letztes Jahr war ich mal da, da kann ich wenig mit anfangen. Wenn ich durch so eine Messe gehe, sehe ich nur die Dramaturgie des Geldes: Ein bisschen was Schrottiges vorne, das kostbare hinter dem Tischchen, das interessiert mich nicht. Da gehe ich lieber auf den Wochenmarkt.
Lieben Sie denn nicht das Schrottige?
Ich habe gelesen, meine Generation sei die Trash-Generation. Stimmt überhaupt nicht, zwanzig Jahre lang war ich verbissener Mainstream-Regisseur und wollte, dass Einstellung nach Einstellung gedreht wird. Dass ich mit einer kaputten Kamera gefilmt habe, war nicht geplant, aber das Material habe ich dann umdefiniert in ein Abenteuer der Kamera, das genauso eine Berechtigung hat wie mein Versagen im Erzählen von Zusammenhang. Das ist doch nicht trashig. Auch durch meine Krankheit habe ich gelernt: Es gibt so viele Sachen, die auf dem Abfall liegen, die für mich eigentlich großes Glück bedeuten.
Wie meinen Sie das?
Eine weggeworfene Pflanze, die auf dem Wochenmarkt in der Tonne landete, weil sie keiner wollte. Ein Kaktus, eine Ecke war rausgebrochen, den habe ich mittlerweile großgezogen, dreimal ist er zusammengeknickt, aber im Frühjahr hat er eine Krone von Blüten bekommen. Adorno hat gesagt, das Schönste ist das Normale, der Kaktus auf meinem Klavier.
Am Maxim Gorki Theater in Berlin ist von heute Abend an "Der Zwischenstand der Dinge" von Ihnen zu sehen. Der Abend entstand in der Zeit ihrer Chemotherapie.
Schon davor begann ich, abends, wenn es dunkel wurde und die Angst kam, in ein Diktiergerät zu reden, wie in einen Mülleimer. Das war ein wichtiger Punkt zum Ablassen. Erst wollte ich das in einer Installation verwenden, dann ein Drehbuch draus machen, das habe ich alles verworfen. Dann entstand im Gorki Theater ein Rahmen, in dem es dunkel ist, wo man Geräusche hört, leise Stimmen, und es wurde klar: Hier kann es höchstens um die kurzen Blitzbilder während des Klinikaufenthalts gehen. Ich war in der Zeit immer völlig fertig, und wenn es ein bisschen besser ging, hat mich meine Freundin Aino Laberenz ins Gorki gefahren, und manchmal bin ich kurz vor der Tür wieder umgedreht und kotzend zurückgefahren. Die Schauspieler - Margit Carstensen, Angela Winkler, Mira Patecke und Gunnar Teuber - wussten auch nicht, in welche Richtung das geht. Aber manchmal, das habe ich da gemerkt, wenn ich mir es wieder anguckte, ist auch Abwesenheit ganz gut.
Der Titel "Der Zwischenstand der Dinge" bezieht sich auf ihre Krankheit.
Das ist der Zwischenstand der Dinge. So viel weiß man zu diesem Zeitpunkt. Inzwischen weiß ich ein bisschen mehr, ich bin wieder ein bisschen kräftiger, ich kann wieder rumlaufen, ob da drin alles in Ordnung ist, weiß der liebe Gott.
Hat sich ihr Verhältnis zur Religion verändert? Plötzlich spielt das Gespräch mit einem persönlichen Gott eine Rolle.
Ein göttliches Prinzip könnte ja sein, permanente Versuchsanordnungen zu machen, so wie wir das auch gerne machen, die dann eben krachen, in denen Leute umkommen oder glückselig sind, sechs Kinder kriegen und nie krank werden. Und er guckt sichs an. Das einzige Problem ist, ihn geht das dann wirklich an, er sitzt dann nicht in der Kantine und zuckt die Achseln, wieder zwei Wohnblocks mit Kindern weggebombt. Ihm tut das dann wirklich weh, aber er muss es trotzdem noch mal ausprobieren, um Erfahrungen zu sammeln. In dieser Hinsicht ist Gott oder dieses Prinzip ein ziemlich schweinischer Künstlerarsch.
Ich erlebe jetzt vieles anders und brauche nicht mehr unbedingt das Tamtam und Brimborium von irgendwelchen religiösen Sachen, obwohl ich die Glocken und den Weihrauch immer noch liebe. Manchmal, wenn es mir nicht gut geht, dann sitze ich hier und höre die Glocken bimmeln von zwei Kirchen in der Nähe, das erinnert mich an schöne Zeiten, als ich noch im katholischen Traumlandpark lebte. Was Gott angeht, habe ich elende Kämpfe, und was den Widerstand gegen das Sterben angeht, bin ich manchmal super geladen. Ich will definitiv nicht sterben. Ich will lange, lange leben, und ich bin verdammt glücklich mit dem, was ich habe.
So schön wir hier kann es im Himmel gar nicht sein. Das ist der Kernsatz.
Die Krankheit hat Sie verändert?
Für mich hat Krebs ein zweites Gesicht. Viele Leute, die krank werden, haben sich in ihrem Lebenshaushalt etwas geleistet, was ihnen nicht gutgetan hat.
Sie reden jetzt über die Ursachen der Krankheit?
Ja. Krebs ist gerade überall mehr im Kommen, weil die Verstellung zunimmt. Das größte immunologische Problem ist der Kopf, die durchimmunisierte Gesellschaft, wie es Sloterdijk genannt hat. Diese Köpfe, die sich mit allem schon zurechtgefunden haben. Tief drin ist da eine Störung, der Mensch weiß, dass er das nicht alles aushält. Jeder muss für sich rausfinden, wo seine Moral ist, wo er sagt, das und das mache ich nicht mit.
Ich habe gelitten unter dem, was ich mir selber eingebrockt habe. Warum musste ich so oft auf einen Zug aufspringen, mit dem ich gar nichts zu tun hatte, warum meinte man immer, ja, den Schlingensief fragen wir mal. Warum muss ich zu allem was sagen, ich habe so viele Anfragen erhalten, halt doch die Klappe, Alter.
INTERVIEW: KATRIN BETTINA MÜLLER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland