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Interview aus der "Literataz""Muslime sind Teil von Europa"

Das Kopftuch ist zentral für das Verständnis des gegenwärtigen Islams, meint die türkischstämmige Soziologin Nilüfer Göle. Ein Gespräch über moderne Frauen, freie Entscheidungen und europäische Ignoranz.

"Das Kopftuch ist zu einem Identitätszeichen geworden." Bild: dpa
Sabine am Orde
Interview von Sabine am Orde

taz: Frau Göle, in Ihrem Buch analysieren Sie das Verhältnis zwischen Europa und dem Islam nach dem 11. September. Ihre These: Islam und Moderne waren sich noch nie so nah wie jetzt. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Nilüfer Göle: Mein Hauptargument ist, dass der Islam Teil der öffentlichen Debatte und des öffentlichen Raums in Europa geworden ist. Er ist ein wichtiger Bezugspunkt für die eigene Identität, die eigenen Werte und Grenzen der Europäer. Das gilt besonders seit dem 11. September.

Aber handelt es sich um Nähe? Hat nicht vielmehr die Abwehr gegenüber dem Islam zugenommen?

Ja, es gibt mehr Konfrontation und Zurückweisung. Aber das bedeutet auch, dass der Islam als Thema an Bedeutung gewonnen hat. Nehmen wir das Kopftuch: Im Europa dachte man lange, das Kopftuch sei nur ein Thema für die muslimischen Länder. Aber in den vergangenen 20 Jahren ist es Teil des öffentlichen Lebens in Europa geworden. In Frankreich ist daraus eine Debatte über den Säkularismus entstanden, die den Säkularismus gestärkt hat: Muslimische Mädchen dürfen in den staatlichen Schulen kein Kopftuch tragen. Säkularismus wurde bislang immer im Verhältnis zum Christentum betrachtet. Heute wird es im Verhältnis zum Islam neu debattiert.

Sie haben schon in der Türkei über das Kopftuch geforscht und machen gesellschaftliche Prozesse am Umgang mit ihm fest.

Für die meisten Wissenschaftler ist das Kopftuch ein Randphänomen. Ich glaube, dass es zentral ist für das Verständnis des gegenwärtigen Islams. Es geht um die Frage, was der private und was der öffentliche Raum ist, und um das Verhältnis von Religion und Säkularität. Das Kopftuch ist das sichtbarste Zeichen des heutigen Islam.

Was hat sich im Umgang mit dem Kopftuch verändert?

Man sucht die Erklärung, warum Mädchen und junge Frauen das Kopftuch tragen, noch immer bei einem vermuteten Druck von Familie oder Gesellschaft und deutet es als Zeichen der Unterwerfung. In bestimmten Phasen in bestimmten Ländern hätten Mädchen ohne das Kopftuch nicht zur Schule gehen können. Natürlich ist es besser, wenn sie dann das Kopftuch tragen, als zu Hause zu bleiben. In der Türkei oder in Frankreich stimmt dieses Bild aber nicht: Das Kopftuch ist ein Hindernis in der Schule und an der Universität. Trotzdem tragen junge Frauen das Kopftuch. Dass sie dies aus eigenem Antrieb tun könnten, wird meist nicht in Betracht gezogen. Aber diese Mädchen wollen Bildung - mit Kopftuch.

Warum?

Das Kopftuch ist zu einem Identitätszeichen geworden. Die Frauen, die das Kopftuch tragen, unterscheiden sich: von Deutschen und Franzosen, aber auch von anderen Muslimen und von ihren Müttern. Die Frauen machen den religiösen Unterschied sichtbar und kommunizieren ihn in den öffentlichen Raum. Das Kopftuch fordert eine Kommunikation heraus.

Diese Kopftuchfrauen, so schreiben Sie, seien ihren Klassenkameraden und den anderen Studenten näher als ihren kopftuchtragenden Müttern. Sind sie moderne Frauen?

Nein, ich würde nicht sagen, dass sie modern sind. Sie verändern unser Verständnis von Modernität und von Feminismus. Sie dringen in die Erfahrungen des modernen Lebens ein und fordern die kulturellen Werte heraus. Wir dachten, modern sein heißt westlich und säkular zu sein, aber damit können wir nicht weitermachen. Wir müssen unsere Definition von Modernität überdenken.

Kritiker sagen, genau das ist der falsche Weg. Sie sehen die Modernität durch den Islam bedroht - zum Beispiel in der Türkei, aber auch in Westeuropa. Gibt es eine schleichende Islamisierung ?

Nein, das würde ich nicht sagen. Betrachten wir es historisch: Der Islam wurde im Prozess der Modernisierung der Türkei marginalisiert und aus dem öffentlichen Leben vertrieben. Gut, schön und Teil der Elite zu sein hieß für die Türken, westlich zu sein: in ihrer Kleidung, im Lebensstil, im Habitus. Der Islam wurde als etwas Rückständiges stigmatisiert, als ein Hindernis auf dem Weg in die Moderne. Jetzt kommt der Islam zurück, er kehrt das Stigma um nach dem Motto: Islam is beautiful. Die Frauen sagen: Ich bin eine gebildete Frau, ich habe einen Beruf - und ich bin Muslima. Diese Haltung haben viele Studentinnen übernommen, das Kopftuch ist in der Türkei populär. Es stimmt, dass der Islam hier immer mehr Teil des öffentlichen Raums wird und auch ein Symbol für solche geworden ist, die Zugang zur Macht haben: Die türkische First Lady trägt Kopftuch. Dennoch gibt es weiter die wichtige Trennung zwischen Säkularem und Religiösem.

Was bedeutet diese Entwicklung für die Türkei?

Die türkische Gesellschaft ist in all diesen Fragen tief gespalten. Aber die säkulare Türkei und die religiöse kommen sich seit den Fünfzigerjahren näher. Die Kluft wird kleiner auch dadurch, dass die religiöse Türkei die politische Arena betreten hat und heute mit der AKP die Regierung stellt. Das ist eine wichtige Entwicklung für die türkische Demokratie. Bislang war es, kurz gesagt, stets so: Wenn der Staat die Säkularität und die republikanischen Werte bedroht sah, gab es einen Militärputsch. Jetzt ist die Frage, wie man mit der AKP umgeht, die bei demokratischen Wahlen mehr als 57 Prozent der Stimmen gewonnen hat und nach demokratischen Regeln spielt. Dass der Versuch, die AKP verbieten zu lassen, letztlich vom höchsten Gericht doch zurückgewiesen wurde, ist ein gutes Zeichen. Zumindest für den Moment scheint der Konflikt zwischen dem autoritären Säkularismus und dem politischen Pluralismus überwunden zu sein. Jetzt muss die AKP umso mehr beweisen, dass sie sich an die Werte von Säkularität und Pluralismus hält.

Warum ist aus Ihrer Sicht die Kluft zwischen Säkularen und Religiösen heute kleiner als vor dem Amtsantritt der AKP?

Sie ist viel kleiner, weil es Räume gibt, in denen sich Muslime, Säkularisten und Liberale treffen. Viele Säkularisten wollen den Einfluss des Militärs nicht mehr und auch keine Art Putsch der Justiz, um die AKP oder das Kopftuch an den Universitäten zu verbieten. Es gibt inzwischen auch viele muslimische Intellektuelle, die in Mainstream-Zeitungen schreiben. Die Öffentlichkeit wird ein gemeinsamer Raum, sie sprechen miteinander, die intellektuellen Bezugspunkte nähern sich an.

Sie schreiben, die Türkei könnte ein Modell sein, um den Islam mit der westlichen Welt zu versöhnen. Wie soll das funktionieren angesichts der vielen Europäer, die die Türkei, gerade weil sie muslimisch geprägt ist, auf keinen Fall in der EU haben wollen?

Atatürk und der türkische Säkularismus haben in der Vergangenheit viele muslimische Länder beeinflusst, jetzt kann die Türkei auch ein Vorbild für die europäischen Länder sein. Zum Beispiel in der Frage: Wie kann man eine Kommunikation mit den Muslimen anstoßen? Die öffentliche Debatte in der Türkei ist in dieser Frage offener. Die türkische Kopftuch-Debatte zum Beispiel ist der französischen sehr ähnlich, weil sie dieselben Themen berührt: die Gleichheit der Geschlechter und die säkulare Definition des öffentlichen Raums. Aber die Debatte in der Türkei ist weiter.

Inwiefern?

Dort wird versucht, die Subjektivität dieser jungen Frauen wahrzunehmen und anzuerkennen, dass sie eine Möglichkeit haben, sich zu entscheiden. In Frankreich verweigert man sich noch immer dieser Einsicht: Wenn eine junge Frau Kopftuch trägt, muss das ein Resultat des Drucks von Familie oder Community sein. Mit Gesetzen will man diese Frauen emanzipieren. Bislang hat die islamische Welt stets vom Westen gelernt. Jetzt ist es an der Zeit, die Richtung zu wechseln: Europa kann auch von anderen Gesellschaften lernen.

Was muss sich in Ländern wie Frankreich oder Deutschland ändern, damit es zu einer fruchtbaren Annäherung kommt?

Die Muslime in Europa müssen die Moderne bei sich anerkennen - und natürlich auf Gewalt verzichten. Und Länder wie Deutschland und Frankreich müssen aus dem nationalstaatlichen Rahmen herauskommen und europäischer werden. Das würde helfen, im Rahmen einer größeren Öffentlichkeit zu denken. Europa muss endlich begreifen, dass Muslime Teil von Europa sind. Es muss sich neu definieren und die alte "Reinheit" in Frage stellen.

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5 Kommentare

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  • AT
    Andreas Thomsen

    Das Kopftuch selbst ist doch nicht das Problem - das haben unsere Urgroßmütter auch getragen. Das Problem ist, dass es zu einem Abzeichen, zu einer Uniformierung geworden ist: wer dazugehört und wer nicht. Vor einer Generation noch konnten überzeugte Musliminnen z.B: aus Nordafrika durchaus westlich gekleidet gehen, ohne dass irgendjemand ihren Glauben anzweifelte.

     

    Ich hätte gerne gewusst, ob eine Muslimin (nicht "Muslima") auch dann als vollwertiges Gemeindemitglied gilt, wenn sie kein Kopftuch trägt? Ob also der Glauben demonstrativ zur Schau gestellt werden muss? Und warum dann gut muslimische Männer sich keine Bärte wachsen lassen müssen usw.?

     

    Mir scheint vielmehr, dass das Kopftuch zur Kategorie "Sitten und Gebräuche" und nicht zu den Glaubensfragen gehört.

     

    Also kann man sagen: "ich respektiere Deinen Glauben, aber ich finde die Art, wie Du ihn demonstrierst nicht gut"? Schliesslich gibt es auch eine europäische Tradition, die Kopfbedeckung zu Hause und in bestimmten Gebäuden, z.B. in der Schule, abzunehmen, die von den politischen Kopftuchträgerinnen nicht respektiert wird.

     

    Gerade der demonstrative Akt des sich selbst Ausgrenzens ist das Problem. Man sollte dieses Ausgrenzen nicht dadurch verstärken, dass man gegen das Kopftuch agitiert. Sondern nur höflich und freundlich darum bitten, auch unsere Sitten und Gebräuche zu respektieren.

  • MK
    Martin Korol

    Alles gut und schön, aber noch schöner wäre es, wenn Frau Göle das Modalverb "müssen" etwas sparsamer verwenden würde.

    Martin Korol, Bremen

  • A
    Alice

    "Das Kopftuch ist zu einem Identitätszeichen geworden. Die Frauen, die das Kopftuch tragen, unterscheiden sich: von Deutschen und Franzosen, aber auch von anderen Muslimen und von ihren Müttern. Die Frauen machen den religiösen Unterschied sichtbar und kommunizieren ihn in den öffentlichen Raum."

     

    Mit anderen Worten: In den Fällen, in denen das Kopftuch kein Symbol patriachalischer Unterdrückung ist, ist es ein Symbol für Nationalismus oder Intoleranz gegenüber anderen Religionen. Na dann...

  • HS
    Herwig Schafberg

    Wenn Nilüfer Göle meint, Deutsche und Franzosen müssten "aus dem nationalstaatlichen Rahmen herauskommen und europäischer werden", gebe ich ihr insofern recht, als die Genannten ebenso wie andere Völker Europas ein europäisches "Wir-Gefühl" entwickeln sollten, damit die Einheit der EU vertieft und damit auf Dauer erhalten werden kann.

     

    Auch wenn die Europäer dem Christentum zumeist nur noch formal angehören, ist dieses ebenso wie Renaissance und Aufklärung weiter bedeutsam als Kulturerbe, das ihre Mentalität - mit Ausnahme der Balkanvölker - geprägt und zur Entstehung einer Zivilgesellschaft mit gemeinsamen Vorstellungen von Individualismus und Pluralismus, Freiheit und Mündigkeit des einzelnen sowie Minderheitenschutz und gesellschaftlicher Solidarität, Rechts- und Sozialstaat beigetragen hat.

     

    Die Türkei hat jedoch ebenso wenig aktiv wie andere Herkunftsländer muslimischer Migranten an der geistigen und politischen Entwiklung Europas, sondern lediglich als Rezipient teilgenommen. Die Öffnung nach Europa wie auch die Säkularisierung der Türkei blieben oberflächlich und waren mit keinem tiefgreifenden Bewusstseinswandel der weiter in muslimischen Traditionen verharrenden Bevölkerung - mit Ausnahme der kleinen urbanen Bourgeoisie - verbunden. Ähnliches gilt für Länder wie Algerien und Marokko, aus denen die übrigen Muslime in Europa vor allem kommen. Inwieweit muslimische Migranten anatolischer und maghrebinischer Herkunft an der Entwicklung eines europäischen "Wir-Gefühls" beteiligt sein werden oder davon ausgegrenzt bleiben, wird davon abhängen, inwiefern sie sich akkulturalisieren lassen. Gesellschaftliche Integration reicht dafür nicht aus.

  • GZ
    Gunter Zub

    Der Islam wird solange nicht Teil europäischer Identität werden können, wie in muslimischen Ländern, auch zum Teil in der ach so fortschrittlichen Türkei, christliche Mission, Konversion zum Christentum, der Bau von Kirchen, selbst der Besitz von Bibeln verboten ist, sanktioniert wird oder nur unter Lebensgefahr praktizierbar ist.