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InsektenkundeDie Welt aus Sicht eines Käfers

Ein Insekt? Ein Mensch? Ein Freak? Inox Kapell ist von allem etwas. In seinem "Insekteum" in Neukölln und mit Führungen durch den Kiez schärft er die Sicht auf die lebenswichtigen Erhalter unserer Welt.

Faszination Insekt - für einige mehr als für andere. Bild: AP, Eckehard Schulz

In seinem früheren Leben war Inox Kapell ein Insekt. Nur welches, das muss er noch herausfinden. Man glaubt es sofort, wenn er vor einem steht: Die beiden dunklen dünnen Zöpfe, die er aus den Barthaaren geflochten hat, reichen ihm bis auf die Brust und könnten auch die langen Fühler eines Käfers sein. Der Silberschmuck an Nase, Ohren und Fingern erinnern an einen glänzenden Panzer. Nur seine Augen, die haben nichts von der außerirdischen Kälte eines Facettenauges, sondern blicken geduldig in die Runde, während er vor seinem Laden, dem "Insekteum" in Neukölln eine Einführung in die Insektenkunde gibt.

Was ein Insekt von einer Spinne unterscheide, hat er gerade gefragt, und die sechs Erwachsenen, die neben ihm auf dem Bürgersteig der Pflügerstraße knien, strecken artig die Hand: Spinnen sind in zwei Teile gegliedert, Insekten in drei. Richtig. Mit Kreide malt Inox Kapell die unterschiedlichen Merkmale auf den Asphalt und erzählt mit missionarischem Eifer: "Insekten leben seit 400 Millionen Jahren auf der Erde, wir können so viel von ihnen lernen." Alles andere als hierarchisch agierten sie, die kleinen Wesen, die vor Urzeiten riesig gewesen seien. "Ameisen zum Beispiel organisieren sich in ihrem Staat komplett demokratisch. Im Kollektiv entwickeln sie eine eigene Intelligenz." Und auch Bienen, so erfährt man, treffen alle Entscheidungen im Stock gemeinsam.

Und während dieser Mann, Mitte 40, mit heiligem Ernst und großer Liebe von der außergewöhnlichen Leistung spricht, die Milliarden von Insekten beim Kompostieren unseres Mülls erbringen, wie sie durch Blütenbestäubung den größten Teil unserer Nahrung gedeihen lassen und damit unser Dasein erhalten, fragt man sich: Wie soll ich jetzt je wieder eines dieser Wesen von meinem Apfelkuchen verscheuchen?

Er wirkt ansteckend, dieser seltsame Typ, der sich als "insektoider Botschafter" zwischen Mensch und Insekt versteht und schon als kleiner Junge im Kinderzimmer Terrarien für seine "Verwandten" einrichtete. Er nennt sie wirklich so. Damals lebte er noch in Ostfriesland und hieß Stefan Heiko Olaf Heinze. Inox Kapell wurde er erst mit 20, als ihm der Name im Traum erschien - verbunden mit der Vision, einen Raum voll Harmonie und Leben zu schaffen, in dem Menschen miteinander arbeiten, tanzen und singen. Er zog nach Hamburg und von dort aus um die Welt. Viel mehr verrät er nicht.

Für die folgende Insektenführung durch den Kiez, mit dem Titel "Wespenclub zur Bienenstichzeit", wird jeder mit einem Plastikbecher mit Lupendeckel ausgestattet, die Inox Kapell aus seinem Käferreich geholt hat. Wie er die Becher in diesem Sammelsurium aus leuchtenden Plastikinsekten, Platten, Büchern und zum Verkauf stehenden Second-Hand-Klamotten überhaupt finden kann, bleibt ein Mysterium. Seit drei Jahren hat er es sich hier gemütlich gemacht, zuvor lebte er in einem ähnlichen Quartier in Wiesbaden. Inox hat es "Wespbaden" getauft. Tagsüber verkauft er die Klamotten und den Rest, abends veranstaltet er Partys mit Live-Bands im Gewölbekeller.

Nach ein paar Metern auf dem Weg zum Landwehrkanal der erste Halt. Auf fünf Quadratmetern Kopfsteinpflaster soll jeder ein Krabbeltier finden und unter die Lupe nehmen. Zuerst ist da nur Pflaster, doch nach und nach sieht man es überall kreuchen - und nicht bloß Ameisen. Kleine Käfer mit goldener Halsborte landen im Becher, rote Wanzen und japanische Marienkäfer. Natürlich werden sie nach vielem "Aha" und "Kuck mal!" wieder lebendig entlassen. Was hier wie zu welcher Familie gehört, ist nebensächlich, die Lektion klar: Selbst auf fünf Quadratmetern in Berlin-Neukölln gedeiht die Natur. Das Auge schärfen für die kleinen, feinen Dinge im Umfeld, daran ist Inox gelegen.

Bei den Erwachsenen funktioniert das - aber noch viel besser bei den Kindern, die der autodidaktische Entomologe manchmal durch den Kiez führt. "Insekten sind Lebewesen, die noch viel besser hören und fühlen können als wir. Die treten wir nicht tot", zeigt er ihnen.

An der Richard-Schule in Neukölln hat er mit Schülern gerade ein "Insektenhotel" gebaut, sein viertes Projekt dieser Art. Es soll eine Herberge und ein Nistplatz für die Tiere sein, die unsere Pflanzen bestäuben, "ein Ort, der Lebensräume schafft und ein Ort der Kommunikation".

Und wenn jemand tatsächlich Angst vor Spinnen oder Riesenkäfern hat, dann kann er einen Termin bei Inox machen und sich die Phobie nehmen lassen. Bisher habe es immer geklappt, sagt er.

Die heutige Gruppe aber folgt dem Insekten-Meister, der den großen Käscher über der Schulter trägt, ans Paul-Lincke-Ufer. Ein Schwung mit dem Netz, und schon landet eine hellgrüne Krabbenspinne darin. Auf ihrem Rücken leuchtet ein rosafarbener Punkt. Spazierende Omas und Opas wollen ihren Enkel mal schauen lassen, die Frauen meinen: Das wäre eine super Farbkombination für ein Kleid. Und Inox ist mitten in seiner Mission, die Faszination und Inspiration, ausgehend von den winzigen Krabblern, weiterzugeben. Und ja, sie werden einem langsam sympathischer.

"Einmal, als es mir ganz schlecht ging, da tauchte die Königin der schwarz glänzenden Holzameise auf. Ich hatte sie noch nie gesehen. Das war schön, ein großer Trost für mich", wird er später erzählen. Eine Ameise, die einen tröstet. Wer kann das schon von sich behaupten? Umso länger man mit Inox spricht, desto häufiger stellt sich die Frage, ob dieser Mensch nicht im konstanten Drogenrausch schwebt.

Er erzählt auch von seinen Erfahrungen mit Außerirdischen, wenn man ihn danach fragt. Dass er sich in der Natur mal wie in einer Art Lichtkugel gefühlt hat, davon wie weggeblasen war und später heraus fand, was ihn unbewusst an diesen Ort gezogen hatte: eine große Menge Hirschkäfer. "Insekten sind so etwas wie Außerirdische für mich, denn sie leben in einer anderen Dimension und Zeit", sagt er. Eine Fliege zum Beispiel schlage 2.500 Mal pro Sekunde mit den Flügeln, sie lebe in einer viel schnelleren Zeit und sei deshalb schwer zu fangen. Man muss ihm auf diese Sätze zum Glück nicht antworten.

Zurück im Insekteum packt er im düsteren Gewölbekeller seinen Schaukasten mit toten Tieren aus. Ein Museumskäfer ist darunter und ein Gewürzkäfer. In diesem unterirdischen Raum spielt sich sein zweites Leben ab - das des Musikers. Alle paar Wochen treten hier Bands auf, die Inox auf seinen langen Reisen der letzten Jahrzehnte durch Deutschland, Holland, USA, Indien und Sri Lanka kennen gelernt hat. Macht er selbst Musik, so ist auch sie von Insekten inspiriert. Entweder arbeitet er mit Tönen, die an die Tiere erinnern sollen. Kratzige Sounds imitieren das Graben von Termiten und Blatthornkäfern, sagt er. Oder aber er bearbeitet Originaltöne: "Die Rhythmen der Grillen, Zikaden, Heuschrecken und Grashüpfer kann man gut für einen Poppisong nutzen."

Wie lange er sein skurriles Nest, seinen Party- und Verkaufsraum und das Insekteum in der Pflügerstraße noch bewohnen darf, ist allerdings fraglich. Momentan verhandelt er wegen akuten Wasserschäden, Einbruchsgefahr und auslaufendem Mietvertrag mit dem Eigentümer. "Vielleicht muss ich bald einen neuen Ort in Berlin finden, das wird schwierig. Aber jetzt kämpfe ich erst mal um das Insekteum." Schließlich hat Inox hier noch einiges vor. So verrückt sich seine Pläne und seine Überzeugungen auch anhören - seine größte Vision klingt sehr nachvollziehbar: "Mein Traum ist der Erhalt dieses Planeten. Ich will meiner Tochter weiterhin die Schönheit unserer einzigen Erde zeigen können." So wenig verrückt ist das wie sein bürgerlicher Beruf. Eigentlich ist Inox Groß- und Einzelhandelskaufmann. Aber im Herzen ein Insekt.

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