Initiative der Woche: Öffnet die Hotels!

Die Hannoveraner Ini „Soli statt Hamster“ setzt sich in der Krise für Obdachlose, Frauen* und Geflüchtete ein.

Für Obdachlose eine besonders schwere Situation. Eine gesperrte Bank am Maschsee in Hannover Bild: dpa

Ein Gastbeitrag von SOLI STATT HAMSTER

Zur Unterstützung von Risikogruppen haben sich bereits in vielen Gegenden und Städten Initiativen gebildet, die sich in der Coronakrise solidarisch zeigen und in alltäglichen Handlungen, zum Beispiel beim Einkaufen oder durch Botengänge Hilfestellung leisten.

Auch in Hannover haben sich Nachbarschaftshilfen entwickelt – ob durch einen handgeschriebenen Aushang im Treppenhaus oder vernetzt über die Sozialen Medien und Chatgruppen. Wir sehen einen Schwerpunkt unserer Initiative in der Aufgabe solidarischer Beziehungsgestaltung und versuchen tagtäglich den Zugang zu Informationen zu erleichtern und Menschen zu vernetzen.

Das bedeutet zum einen, dass wir versuchen, Tandem-Partner*innen zu vermitteln und zum andern Initiativen miteinander zu verbinden.

Risikogruppen – mit diesem Begriff gehen Assoziationen und auch Maßnahmen einher. Maßnahmen von besonderem Schutz und von gesellschaftlicher und solidarischer Unterstützung. Zumeist nicht mit diesem Label versehen werden andere Personengruppen, die aber ebenfalls mit erhöhtem Risiko unter dem Virus beziehungsweise seiner Begleiterscheinungen leiden werden – wir wollen hier drei konkrete Beispiele weiter ausführen: Obdachlose, Geflüchtete und Frauen*.

#wirbleibenzuhause – und wo bleiben die ohne Zuhause?

Das Bundesgesundheitsministerium ruft unter dem Motto „wirbleibenzuhause“ dazu auf, körperliche Kontakte zu vermeiden – was in Deutschland selbstredend für alles gilt außer für den Gang zur Arbeit. Ist bereits das absurd genug und zeigt, wie die Prioritäten gesetzt werden, lässt sich an diesem Beispiel doch vor allem zeigen, welche blinden Flecken es bei der Betrachtung der Risikogruppen gibt. Wie sollen Menschen Zuhause bleiben, wenn sie ein solches nicht haben, sie obdachlos sind?

Menschen in Obdachlosigkeit haben aufgrund ihrer Lebensumstände ein erhöhtes Risiko der Infektion, sie können nur selten regelmäßig auf sanitäre Einrichtungen zurückgreifen. Wenn die Notunterkünfte nicht bereits geschlossen sind, sind sie voll und dementsprechend ist dort an den überall postulierten Abstand nicht zu denken.

Die Gesellschaft ist im Ausnahmezustand – dabei ist der Normalzustand für Menschen in Obdachlosigkeit zumeist prekär genug. Sie sind in den Großstädten mit dem zunehmenden Einfallsreichtum der Stadtplanung konfrontiert – seien es unsinnige Lehnen auf Bänken oder die Idee, an bekannten Schlafstellen in der Nacht Opern-Arien laufenzulassen.

Solidarität aus der Mehrheitsgesellschaft gibt es kaum, stattdessen Abwertung: 35,4 Prozent stimmen in einer Erhebung zu den „Deutschen Zuständen“ der Aussage zu: „Bettelnde Obdachlose sollten aus den Fußgängerzonen entfernt werden“ und befürworten damit die Ungleichbehandlung und den Ausschluss obdachloser Menschen aus dem öffentlichen Raum.

Der blinde Fleck hat Gründe

Der blinde Fleck hat also Gründe, steckt in ihm womöglich der Wunsch, sich mit diesem Problem nicht mehr befassen zu müssen. So wundert es auch nicht, dass die milliardenschweren Sofort-Hilfen nicht etwa in die Versorgung von mittel- und/oder obdachlosen Personen investiert werden, sondern in die Rettung des Wirtschaftsstandortes Deutschland.

Zeitgleich schließen bundesweit Tafeln und Notunterkünfte – allerdings nicht, weil es sie endlich nicht mehr bräuchte. Um diesen Risikogruppen Schutz zu gewähren und sie nicht ihrem vermeintlichen Schicksal zu überlassen, fordern verschiedene Initiativen, unter anderem in Hannover, dass für ihre Unterbringung leerstehende Hotels genutzt werden sollen.

Wir fordern: Wohnraum für alle Menschen muss sichergestellt sein, eventuell auch durch Übernahme von Mietkosten und Nutzung leerstehender Gebäude. Das gilt speziell auch für die aktuell nicht genutzten Hotels. Es ist zunächst nicht mehr als eine weitere Notmaßnahme, aber es könnte so einfach sein: Möblierte, aber ansonsten leere Häuser werden dazu genutzt, wofür sie gebaut wurden: Zum Schlafen und Bewohnen. Die Stadt London hat eine vergleichbare Maßnahme umgesetzt. Doch die zähen Verhandlungen, die es braucht, um dieses Mindestmaß an Humanität herzustellen, sind angesichts der sofortigen Zusage der wirtschaftlichen Programme ein erschreckendes Trauerspiel.

Wenn die Sicherheitshinweise angesichts der Infektionsausbreitung des neuen Coronavirus ernst gemeint sind, dann müssen die Verhaltensregeln allen ermöglicht werden. Die erfreulich selbstverständliche Solidarität mit älteren Personen muss dringend auch auf diese Risikogruppe ausgeweitet werden, denn nur mit Druck wird diese Minimalforderung, die in Hannover maßgeblich von „Selbsthilfe für Wohnungslose e.V.“ angestoßen wurde, von der Stadt umgesetzt werden.

„Es wird Zeit die #NachbarschaftsChallenge zu weiten“

Martialisch anmutende Bilder zeigte der Mitteldeutsche Rundfunk am 18. März: Mit Gasmasken und Schlagstöcken ausgestatte BFE-Einheiten, Wasserwerfer, Räumpanzer, Schutzanzüge und eine Geflüchteten-Unterkunft. In Suhl hatten sich laut Polizeimeldungen 22 Personen gegen Isolationsmaßnahmen widersetzt.

Bereits zwei Tage zuvor hatte die Gruppe „Women in Exile“ (WiE) auf die schlechte Informationslage rund um Corona und auf den miserablen Zustand in Geflüchteten-Unterkünften hingewiesen. „Es wird Zeit die #NachbarschaftsChallenge zu weiten. Nicht nur weiße, deutsche Nachbar*innen haben Recht auf Fürsorge und Gesundheit, auch Flüchtlinge.“ Das bedeutet für WiE: „Mehrsprachige Informationen, Transparenz der Behörden und Mitspracherechte der Geflüchteten in Erstaufnahmen; Möglichst schnelle, dezentrale Unterbringung und Schließung der Lager; Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung.“

Der niedersächsische Flüchtlingsrat fordert umfangreiche Maßnahmen zum Schutz von Geflüchteten, unter anderem: „Das Land muss in Kooperation mit den Kommunen die Anzahl der Bewohner*innen in den Massenunterkünften deutlich reduzieren, um das Infektionsrisiko zu senken.“ Der Flüchtlingsrat schließt in dieser Hinsicht an die Forderung nach der Unterbringung obdachloser Personen in Hotels an.

Für die Unterstützung Geflüchteter gelten nämlich analoge Voraussetzungen zur Unterstützung Obdachloser. So könnte die oben beschriebene Vereinbarung zwischen DEHOGA und der Stadt Hannover auch die dezentrale Unterbringung Geflüchteter ermöglichen. Als Vernetzungsinitiative haben wir von vornherein immer wieder darauf hingewiesen: Unsere Solidarität ist universell.

Schaut nicht weg

135 Femizide gab es im vergangenen Jahr in Deutschland. Das bedeutet, dass beinahe alle 72 Stunden eine Frau getötet wird. Tagtäglich sind Menschen schwerster Gewalt im nächsten Beziehungsumfeld ausgesetzt. In Zeiten von COVID19 kommt dabei die Arbeit von Frauenhäusern immer mehr an ihre Grenzen. Auch hier drohen Schließungen.

Elia Heine (Name geändert), Mitarbeiterin in einem Frauenhaus in Hannover, berichtet: „Der Spagat zwischen einer guten Begleitung und Unterstützung der gewaltbetroffenen Personen sowie ihrer Kinder und dem Einhalten minimaler Hygienestandards wird immer schwieriger. Gerade durch Quarantäne und Isolation nehmen Zustände von Gewalt in sozialen Beziehungen und sexualisierter Gewalt noch drastischere Züge an als ohnehin schon. Die eingeschränkten Möglichkeiten Gewaltsituationen zu entkommen führen zu einer Beschleunigung der Gewaltspirale.“

Unter diesen Umständen ist es wichtig, bestehende Hilfsangebote und Schutzräume noch sichtbarer zu machen. In China etablieren Aktivist*innen einen Hashtag für Sichtbarkeit im digitalen Raum. Analog dazu haben Aktivist*innen in Hannover einen Hausaushang für Betroffene von Gewalt konzipiert. Dieser umfasst eine Sammlung von Hilfsangeboten und Telefonnummern und ist ein Handlungsaufruf hinzuschauen und nicht wegzusehen.

Gerade im Kontext der akuten Nachbarschaftshilfe ist hier jede*r von uns gefragt, von Gewalt Betroffene zu unterstützen. Elia Heine sagt dazu: „Mehr denn je sind von Gewalt betroffene Personen auf die Unterstützung von Nachbar*innen angewiesen. Viele Betroffene können erst Kontakt zu Beratungsstellen aufnehmen, wenn Sie sich außerhalb ihres Wohnumfeldes befinden. Deshalb die Bitte an alle: Schaut nicht weg, holt Hilfe, bietet eure Unterstützung an, wenn möglich.“

Von blinden Flecken zu einer solidarischen Gesellschaft

Während über milliardenschwere Wirtschaftshilfen gesprochen wird, zeigt sich konsequent, dass bereits Marginalisierte immer weiter ins gesellschaftliche Abseits geraten und sie zu blinden Flecken der Coronakrise werden. Es bleibt die große Frage, die sich auch bei der derzeitigen solidarischen Nachbarschaftshilfe stellt: Wie wollen wir in der Zukunft zusammenleben und wie schaffen wir es, eine bessere und solidarischere Gesellschaft zu werden?

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