IndustrieBIER oder Craft Beer? Fortschritt oder präzivilisatorische Natürlichkeit?: Techno in der Nachmittagssonne
Ausgehen und rumstehen
von Svenja Bednarczyk
Der Freitagmorgen beginnt mit Craft Beer. Aus dem Radiowecker erklärt Greg Koch, der gerade eine Brauerei in Berlin-Mariendorf errichtet, im Deutschlandfunk: „Die Mission ist, dass die Menschen erkennen, dass Bier mehr sein kann als dieses ganze industrielle Zeugs.“ Als handwerklich gebraut und unabhängig von großen Konzernen beschreibt er sein Bier. Er sagt weiter: „Die großen Unternehmen denken, wir sind zu blöd. Sie denken, wir haben keinen Geschmack, wir verdienen nicht das Gute.“ Der Bericht nennt sein Craft Beer „anders als die großen Einheitsbiere“.
Antikapitalistische Rhetorik
Einheitsbier? Wer schon mal ein Jever und ein Radeberger getrunken hat, weiß, wie unterschiedlich Pils sein kann. Die Schlagworte erinnern stark an antikapitalistische Rhetorik, bei der Konzerne grundsätzlich böse, gleichmachend und profitgierig sind.
Der alternative Hipsterbrauer dagegen sei natürlich nur am Wohl seiner Kundschaft interessiert. „Craft Beer zu trinken, heißt, eine Haltung zu haben“, heißt es im Radiobericht. Hier soll nicht nur Bier, sondern auch Ideologie verkauft werden – für 6,40 Euro pro 0,33 Liter.
Ich mache das Radio aus und mich auf den Weg nach draußen. Im Flur treffe ich den Mitbewohner. „Guck mal, ich habe mir Barfußschuhe gekauft“, sagt er. „Das ist natürliches Laufen, megagesund für die Füße und den Rücken.“ 80 Euro hat er ausgegeben für ein Paar schwarze Antirutschstrümpfe mit Gummi an der Sohle. Er berichtet, wie Kinder in der Bahn über seine neue Fußbekleidung diskutieren. Warum der Mann nur Socken trage, fragen sie sich. Er klingt stolz.
Ökohippie und Prenzlauer-Berg-Bioeltern sind sich einig. Ihr Konsum soll natürlich sein, nachhaltig, gesund, regional und die Ware am liebsten handgemacht. Denn das individuelle Produkt bestärkt die vermeintliche Individualität der Käufer*in. Dabei wird Massenversorgung verteufelt und die präzivilisatorische Zeit als „natürlich“ verherrlicht. Die Menschen sind auf der Suche nach dem guten Leben.
Darauf ein Plädoyer für den Fortschritt in drei Sätzen: Gar alles spricht doch für die industrielle Produktion. Billige und effiziente Herstellung in einer arbeitsteiligen Gesellschaft beispielsweise. Keine Scherben in den Füßen dank festem Schuhwerk sind auch gesund und weniger Kopfschmerzen am nächsten Tag nach dem Genuss von „Einheitsbier“.
Am Abend besuche ich mit M. einen Vortrag des Journalisten Thomas von der Osten-Sacken zum Krieg in Syrien und Irak. Ich entscheide mich gegen das an der Bar angebotene Craft Beer. M. bezeichnet sich selbst als neoliberal. Was sagst du zum Natürlichkeitsfetisch der Menschen? „Wenn es eine Nachfrage nach Handgemachtem gibt, ist das doch in Ordnung“, sagt er. „Fortschrittsfeindlichkeit ist dumm, aber es spricht doch nichts dagegen, dass Leute das dumme Zeug bekommen, das sie wollen.“
Samstag ist Tagsüberparty
Am Samstag gehe ich mit M. auf eine Tagsüberparty. Vom Türsteher werden wir gefragt, welche unsere Lieblingsfarbe ist. Schwarz. Auf zwei Floors läuft düsterer Techno. Menschen tragen Sonnenbrillen und sportliche Outfits mit Logos von Nike und Adidas. Wir tanzen mehrere Stunden in der Nachmittagssonne; an der Bar gibt es Sonnencreme und Bier nur von Beck’s. Auch hier suchen die Menschen das gute Leben – im Hedonismus.
Als ich Sonntagmorgen frühstücken will, sind keine Tiefkühlbrötchen mehr da. Also backe ich selbst Brot mit Biomehl, Biokräutern, Biohefe, Bioröstzwiebeln und Himalajasalz für die Mitbewohner. Dazu gibt es veganen Rührtofu. Total natürlich, nachhaltig, gesund, regional und handgemacht. Immer radikal, niemals konsequent.
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