■ In der Türkei gehen Hunderttausende auf die Straße: Antifundamentalistisches Potential
Die Stellungnahmen türkischer Politiker nach der barbarischen Brandstiftung durch islamische Fundamentalisten im anatolischen Sivas waren von der Angst geprägt. 36 Menschen, unter ihnen zahlreiche prominente türkische Intellektuelle und Künstler, waren unter dem Applaus des Mob in den Flammen umgekommen. Doch das neue türkische Kabinett unter Ministerpräsidentin Tansu Ciller, hielt sich zurück. Innenminister Mehmet Gazioglu redete gar von einer „Provokation“ von Intellektuellen, die atheistische Propaganda betrieben hätten. Man wollte islamische Wähler nicht verprellen. Die Opfer wurden zu Tätern gestempelt, allen vorneweg der 78jährige Aziz Nesin, der in seiner Tageszeitung Aydinlik die „Satanischen Verse“ von Salman Rushdie als Fortsetzungsroman hatte publizieren lassen.
Die Politiker haben sich verkalkuliert. Hunderttausende gingen gestern bei der Beerdigung Asim Bezirci und des Volkssängers Nesimi Cimen, beide in Sivas ermordet, auf die Straße. Bei den 24 Beerdigungen in Ankara waren es 400.000 Menschen, die die Fundamentalisten verfluchten und die Regierung politisch verantwortlich machten. Der stellvertretende Ministerpräsident und Vorsitzende der Sozialdemokratischen Volkspartei, Erdal Inönü, wurde ausgebuht und angerempelt. „Die Mörder sitzen im Parlament“, skandierte die Menge. In Provinznestern, deren Namen ich zum ersten Mal höre, forderten Bürger den Rücktritt des Innenministers.
Die Herrschenden hatten ein falsches Bild von ihren Bürgern. Sie haben das säkulare, antifundamentalistische Potential in der türkischen Gesellschaft unterschätzt. Wenn Hunderttausende „In Deutschland die Skinheads, in Sivas die islamischen Reaktionäre“ skandieren, bekommen es türkische Politiker mit der Angst zu tun. Abgeordnete der Sozialdemokratischen Volkspartei fordern bereits den Rücktritt des Innenministers, um die Koalition, der sie angehören, nicht zu gefährden. Plötzlich ist „fundamentalistischer Terror“ im Munde jedes Politikers, und in Sivas meldet der Polizeipräsident, daß sich „Mitglieder einer illegalen fundamentalistischen Organisation“ unter den 140 Festgenommenen befänden.
Die Türkei ist nicht Algerien. Mit staatlichem Terror versucht dort das Regime die islamische Bewegung zu unterdrücken. In der Türkei dürfen sich die Anhänger des Gottesstaates nicht nur frei organisieren, sie dürfen selbst zu Mord und Terror aufrufen. Nicht der (gegen Kurden und Linke) repressive türkische Staat ist eine Barriere gegen islamischen Fundamentalismus, sondern die Arbeiter und Schüler, die Mittelstandsfrauen und die Slumbewohner, die gestern in Istanbul zu Hunderttausenden auf die Straße gingen. Ömer Erzeren, Istanbul
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen