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■ Zur EinkehrIn der Erinnerung

Manchmal ist er ganz einfach da. Das heißt, manchmal glaube ich, er sei einfach da. Denn der Geschmack der Kindheit spukt herum zwischen Gaumen und Erinnerung, wenn er ganz plötzlich auftaucht. Schmecke ich ihn als süß, stellt er sich bitter, empfinde ich ihn als sauer, leugnet er seinen Charakter ganz. Trotzdem habe ich immer wieder nach ihm gesucht.

Bei der Mutter meines Vaters zum Beispiel. Sie hieß „Mudder Marie“und kochte für uns Kinder Karo-Kaffee. Sie hatte eine dieser riesigen Dosen auf dem Küchenschrank. Immer, wenn wir zu Besuch kamen, stand wenig später ein Becher dieses Kinderkaffees auf dem Tisch, und wir haben nie herausgefunden, wie ihr die Zubereitung so schnell gelingen konnte.

Doch Karo-Kaffee ist nur ein Geschmack der Kindheit. Genauso wie der von H-Milch, die es nur bei Oma Anneliese in Korbach gab und die die einzige Milch war, die ich mochte. Dabei war ich gar nicht wählerisch oder „lecker“. Im Gegenteil. Mit Ausnahme von rohen Tomaten und Milch, die wir noch warm vom Bauern bezogen, trank und aß ich alles. Alles, was für uns Kinder erlaubt war.

So wie der Blumenkohl-auflauf. Unten Blumenkohl, der mit Kochwurststücken gemischt war, darüber Kartoffelbrei und ganz oben eine knusprig-braune Schicht als Leckerbissen. Natürlich war diese Schicht heiß begehrt. Am liebsten hätten wir sie am Schluß mit der Gabel heruntergekratzt und zwischendurch noch ein paar Wurststückchen aus dem Auflauf gefischt. Aber in solchen Kämpfen setzen sich Mütter fast immer durch. Auch den Frikadellenkampf hat meine Mutter jedes Mal gewonnen. Mindestens zwei Stück hat sie vor unserer Gier für unseren Vater gerettet. Zur mäßigen Entschädigung steckten wir die Gabel in den Topf mit den Kohlrabi-Stücken, die milchig-süß schmeckten und mit einer geheimnisvollen Sauce zubereitet waren.

Erst viel später lüfteten sich der Zauber dieser Sauce und viele andere Rätsel des kindlichen Mittagstisches: Ein Schuß Kondensmilch aus der Dose verfeinerte den Kohlrabi, schlichter Ketchup machte aus dem Serbischen Reisfleisch eine Delikatesse, die zauberhafte Schicht auf dem Blumenkohlauflauf war nur Käse, Butter und Pannade, und die Zubereitung von Karo-Kaffee entpuppte sich buchstäblich als Kinderspiel.

Die Aufklärung hat all diese Geheimnisse entzaubert. Trotzdem bleiben sie als angenehm in Erinnerung. Nur diesem einen rätselhaften Geschmack der Kindheit konnte die Aufklärung nichts anhaben. Er kommt aus einer Zeit vor Beginn der Erinnerung.

Christoph Köster

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