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In der Ahnengalerie

■ Heute: Die Rai-Musik von Alpha bis Omega

Dies ist der letztgeborene des Rai: Cheb Kader. Nach Cheb Khaled, dem Größten, dem König, Cheb Mami, dem Kind Cheb Hamid, Cheb Moumen, Cheb Sarahoui, Raina Rai, Cheba Fedela, Cheba Zahounaia, den Prinzessinnen. Cheb'Cheba? Die Jungen im Gegensatz zu Cheikh, den Alten. Cheb Kader, 22 Jahre, zählt zu den ganz jungen Sängern, die diese Musik, den Rai, weitertreiben. Eine Musik, die Algerien verrückt macht und die Grenzen zu Tunesien und Marokko überschreitet und bis nach Frankreich vordringt.

Wird Rai wie der Reggae auf dem Planeten explodieren und ein Teil der musikalischen Landschaft am Ende dieses Jahrhunderts werden? Alle Wetten sind noch offen, Rai umgibt sich mit Leidenschaft, mit Gerüchten, um die Diskussionen und die Beigeisterung anzufachen. Rai hat seine Stars und seine Geschichte. Mit seinen hypnotischen, elektrifizierenden Rhythmen, seinen halb im Rock, halb im Reggae sitzenden Wurzeln, den Arabesken der Stimme - ah, die rauhe Klage von Khaled! - löst der Rai unweigerlich die Bewegung des Körpers und der Seele aus, hebt die Hüfte und die Schulter bis zur Euphorie: Rai verdreht den Kopf. Genau dies machte auch der algerischen Regierung Angst als sie den Rai aus ihren Radio- und Fernsehkanälen verbannte. Trotzdem hat diese Musik sich zu dem entwickelt, was sie heute ist: Ausdrucksmöglichkeit der algerischen Jugend, egal ob sie im Heimatland oder in Frankreich ansässig ist, die genauer über ihr Leben und ihre Wünsche berichten kann als importierte Disco-Schlager.

Entstanden ist diese Musik Anfang dieses Jahrhunderts als Gegensatz zu dem sogenannten „chirelmelhoun“, eine beliebte Art von gesungener Poesie, sehr schön und sehr akademisch. Die „Barfüßler“, nämlich die, die nichts besaßen, die Schäfer hörten diese Musik bei Feiern, Hochzeiten, Beschneidungen und verstanden nichts davon, - außer einem Wort, einem Ausruf, der oft wiederholt wurde: Ya Rai! Die Schäfer aus der Gegend von Oran übernahmen diese Laute und sangen sie bei ihren eigenen Feiern. In die Städte gebracht wurde sie in den 50er Jahren von Frauen, den sogenannten Cheikhates, die die Liebe ohne die üblichen Metaphern und poetischen Umschreibungen besangen. Oran, die Stadt mit der lockeren Moral, die Stadt in der man Frauen treffen konnte, wie die Sängerinnen Maaskaria, Jerba und die berühmte Rimitti - sie war in den Bars für ihr „Remettez-moi ?a !„(noch einmal dasselbe) bekannt.

In den 60er und 70er Jahren setzten bekannte Künstler erstmals andere Instrumente neben dem traditionellen Bendir oder der Flöte ein, betonten die rhythmische und melodiöse Seite des Rai, behielten aber die gewagten Texte bei.

In den 80er Jahren folgte dann die Explosion mit Cheb Khaled, „l'enfant terrible“, dem Star mit dem mitreißenden Lachen und dem bewegten Leben, der von einem Fest zum anderen zieht um mit spontan zusammengestellten Bands zu singen. Welche Stimme! „L'amour, c'est bon maman!“ Plötzlich wurde diese „vulgäre“ und „unanständige“ Musik zum algerischen Kulturgut ernannt und öffentlich 1985 auf dem Festival von Oran vorgestellt. Seitdem er toleriert wird, hat sich der Rai zivilisiert und auch erweitert, sich dem Blues, dem Jazz angenährt und eine Freundeshand nach Europa ausgestreckt, über den Ozean des Unverständnisses, der uns von den arabischen Kulturen trennt. Cheb Kader, mit seinem Engelsgesicht, vertritt noch eine neue Art des Rai: Ein gebändigter Rai, sauber, mit fast moralisierenden Texten, den er mit seiner festen Gruppe von ausgesuchten Musikern unseren europäischen Ohren näherbringt.

Susanne Winterfeldt

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