■ In den USA machen Lesben und Schwule mobil: Was ist amerikanisch?
Verkehrte Welt? Es gab Zeiten, da war das Weiße Haus für die Schwulen und Lesben in San Franciscos Castro-Viertel der Inbegriff des feindlichen Territoriums. Jetzt gehen sie, wie jüngst geschehen, für den Präsidenten auf die Straße. Es gab Zeiten, da demonstrierten Linke, Liberale und Bürgerrechtler in den USA gegen das Militär. Heute fordern sie, daß auch jede/r eine Uniform anziehen darf, wenn er/sie will.
Nach einem Marathon der Stigmatisierung von „geistesgestört“ über „sexuell pervers“ bis „Aids“ ist aus der Schwulen- und Lesbenbewegung in den USA ein neues civil rights movement entstanden. Damit sind noch keineswegs die Stigmatisierungen aus der Welt, aber das Dasein als Randgruppe hat ein Ende. Bürgerrechtsbewegungen sind politisch deshalb so brisant, weil sie weder ein Nischendasein als defensive noch als radikale Minderheit anstreben. Auf den ersten Blick mag es wohl scheinen, als hätte das gesamte politische und militärische Establishment in Washington in der Frage der Integration von Homosexuellen im Militär a) den Verstand und b) jeden Sinn für die Relevanz politischer Themen verloren.
Bei näherem Hinsehen erweist sich dieser Streit als Teil eines der zentralen gesellschaftspolitischen Konflikte der nächsten Jahre in den USA: Da bekämpfen sich New Yorks Schwule und Lesben mit der katholischen Lobby wegen der Teilnahme bei der irischen Parade am St. Patrick's Day in New York (was so skurril nicht ist, wie es sich anhört, wenn man um die Bedeutung von Paraden in den USA weiß); da attackieren christliche Fundamentalisten in Koalitionen mit Hispanoamerikanern, orthodoxen jüdischen Gruppen oder konservativen Afroamerikanern Schulbücher und Lehrpläne, in denen Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften gelehrt wird; da protestieren Schwule und Lesben mit Boykottaktionen gegen Diskriminierungsgesetze wie jüngst im Bundesstaat Colorado; da tauchen in den US-Medien immer häufiger Berichte über schwule und lesbische Paare mit Kindern auf, in denen implizit das Primat der Heterosexualität als gesellschaftliche Norm in Frage gestellt wird. Im Land der Puritaner und des Machismo löst das ohne weiteres ein mittleres Erdbeben aus.
Zu ihrem Selbstverständnis als Bürgerrechtsbewegung gehört, daß Schwulen- und Lesbengruppen in den USA die ideologischen Heiligtümer des patriotism und der family values genauso selbstverständlich in Anspruch nehmen wie die Generäle im Pentagon, die Republikaner oder die katholischen Bischöfe von Seattle bis New York. Kurzum: Es geht nicht mehr nur um Toleranz seitens der heterosexuellen Mehrheit, die bestenfalls Schutz vor Diskriminierung gewährt, wenn es sich atmosphärisch und wahlpolitisch einrichten läßt. Es geht um die Neudefinition dessen, was „amerikanisch“ ist. Andrea Böhm
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