In den Händen des UN-Tribunals: Karadzic nach Den Haag ausgeliefert
Deportation, Misshandlung, Tötung Tausender: Radovan Karadzic droht eine jahrzehntelange Gefängnisstrafe. Nun hat Serbien ihn ausgeliefert.
BERLIN taz Nun muss sich Radovan Karadzic für seine Verbrechen verantworten. Am Mittwochmorgen traf der ehemalige Präsident der Bosnischen Serben mit dem Flugzeug in Rotterdam ein. Das bestätigte das UN-Jugoslawientribunal. Von dort aus ist er inzwischen in die Haftanstalt des zu Den Haag gehörenden Badeortes Scheveningen gebracht worden.
Karadzic erwartet beim Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag eine massive Anklage, die ihn Jahrzehnte ins Gefängnis bringen dürfte.
Die Anklage wird vertreten von dem Belgier Serge Brammertz, der seit Anfang des Jahres als Nachfolger von Carla del Ponte als Chef-Ankläger am Jugoslawien-Tribunal fungiert. Die Anklageschriften stammen aus den Jahren 1995 und 2000.
Im niederländischen Regierungssitz Den Haag sind drei internationale Gerichtshöfe angesiedelt, die häufig verwechselt werden. Für das Karadzic-Verfahren ist der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (englische Abkürzung: ICTY) zuständig. Er wurde 1993 auf Beschluss des UN-Sicherheitsrats eingerichtet. Dort werden individuelle Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord-Taten abgeurteilt, wenn sie mit Ex-Jugoslawien zu tun haben.
Eine ähnliche Funktion hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH, engl. ICC), der im Prinzip weltweit zuständig ist, wenn die jeweils nationale Justiz nicht willens oder in der Lage ist, die Verbrechen zu verfolgen. Der IStGH beruht auf einem völkerrechtlichen Vertrag, den mehr als 100 Staaten ratifiziert haben. Zuständig ist er nur für Taten, die nach Juli 2002 begangen wurden.
Schon seit Jahrzehnten gibt es den Internationalen Gerichtshof (IGH). Diese Einrichtung der UNO ist nicht für Strafprozesse zuständig, sondern für die Klärung von völkerrechtlichen Streitigkeiten zwischen Staaten.
Konkret werden Karadzic vier Tatkomplexe zur Last gelegt: die Tötung von tausenden bosnischer Muslime in und um die belagerte Muslim-Exklave Srebrenica 1995; die Deportation, Misshandlung, Vergewaltigung und Tötung von bosnischen Muslimen und Kroaten in zahlreichen Internierungslagern, insbesondere im Sommer 1992; die Terrorisierung der Bevölkerung von Sarajevo mit Hilfe von Artillerie und Scharfschützen von 1992 bis 1996; die Geiselnahme von mehr als 200 UN-Blauhelmen und Militärbeobachtern im Mai/Juni 1995.
Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass das Massaker von Srebrenica als Völkermord zu werten ist. Die Grausamkeiten in den Lagern werden von der Anklage als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft und der Terror gegen Sarajevo sowie die Geiselnahme von UN-Soldaten als Kriegsverbrechen.
Bevor der Prozess gegen Karadzic beginnt, wird er Zeit bekommen, sich darauf vorzubereiten. Da er sich vor Gericht selbst vertreten will - wie einst der serbische Ex-Staatschef Slobodan Milosevic -, wird er wohl einige Monate zusätzlich erhalten. Dann werden vermutlich zunächst die Zeugen der Anklage gehört und dann alle Zeugen der Verteidigung. Das Verfahren kann dauern. Der Milosevic-Prozess war bereits im vierten Jahr, als der Angeklagte 2006 starb.
Die Beweisführung bei Karadzic könnte leichter fallen, weil die Taten, für die er angeklagt ist, alle in seinem unmittelbaren Verantwortungsbereich stattfanden. Die Anklage geht jedenfalls davon aus, dass Karadzic formale und faktische Macht in der bosnisch-serbischen Regierung sowie über die bosnisch-serbischen Streikräfte innehatte.
Eigentlich nähert sich das Mandat des Jugoslawien-Tribunals seinem Ende. Mit der UNO, die die Gehälter der 14 Richter und rund 110 Beschäftigten bezahlt, ist folgender Zeitplan vereinbart: Bis 2005 sollten alle Anklagen fertiggestellt sein, bis Ende 2008 alle erstinstanzlichen Prozesse abgeschlossen und bis Ende 2010 auch die Rechtsmittel vor der Berufungskammer abgearbeitet. Dieser Zeitplan wird nun nach der Verhaftung von Karadzic vermutlich über den Haufen geworfen.
Karadzic war er am 21. Juli unter falscher Identität festgenommen worden. Sein Anwalt hatte nach eigenen Angaben am Freitagabend fristgerecht Einspruch gegen die Auslieferung eingelegt, über den ein serbisches Gericht noch entscheiden musste.
Nach der Auslieferung wird die EU nun darüber entscheiden, wann sie das auf Eis liegende Handelsabkommen mit Serbien in Kraft setzt. Das beschlossen am Dienstag EU-Botschafter in Brüssel.
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