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■ In Venezuela ist ein Ende der Verfassungskrise in SichtKohabitation auf Venezolanisch

Cohabitación heißt der Euphemismus, mit dem in Venezuela das alte und das neue Parlament für die nächsten drei Monate koexistieren werden. Gemeint ist die Entscheidung der Regierung, den im November gewählten Kongress, in dem die Opposition die Mehrheit hält, nicht sofort aufzulösen. Die Abgeordneten, die der Diktatur der Verfassunggebenden Versammlung (Constituyente) trotzten, bewahren nicht nur das Gesicht, sondern auch ihre nicht unerheblichen Gehälter. Sie dürfen ab 1. Oktober wieder Plenarsitzungen abhalten und ihren legislativen Aufgaben nachgehen. Allerdings: Ernst zu nehmende Hindernisse werden sie der neuen Macht im Staate kaum in den Weg legen können.

Denn es ist zu erwarten, dass die Verfassunggebende Versammlung, wo die Leute von Präsident Hugo Chávez 120 von 131 Sitzen halten, unliebsame Gesetze per Dekret wieder aus dem Verkehr zieht. Nach der Verabschiedung der neuen Verfassung durch eine Volksabstimmung im Dezember werden Neuwahlen ausgeschrieben und die Koexistenz des alten Systems mit dem neuen beendet.

Hugo Chávez beweist damit, dass er nicht der politische Hitzkopf ist, als den ihn seine Gegner gerne darstellen. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – er über fast unbeschränkte Macht verfügt, verzichtet er auf einen autoritären Durchmarsch, der mehr Widerstand provozieren würde. Er bemüht sich, seine „Revolution“ ohne Blutvergießen und ohne offenen Bruch der Verfassung, die er zu beseitigen geschworen hat, durchzuziehen.

Nach den scharfen Tönen der vergangenen Wochen, die am 27. August in einem Handgemenge vor dem Parlamentsgebäude gipfelten, ist das teilweise Zurückstecken ein Gebot der politischen Klugheit. Es wird die Demontage der alten Strukturen höchstens verzögern, gewiss nicht verhindern. Manche Eiferer, wie Manuel Quijada, der Vorsitzende des Justizausschusses der Constituyente, halten den Verzicht auf die Auflösung des Kongresses für „einen unverzeihlichen Fehler“, und zweifellos würde auch die Bevölkerungsmehrheit einem radikaleren Durchgreifen gegen die Vertreter des abgewählten Systems applaudieren.

Chávez zieht es hingegen vor, auch die Empfindlichkeiten der Investoren zu berücksichtigen. Gewalttätige Konflikte verscheuchen das Kapital. Und auf dem bevorstehenden Iberoamerikanischen Gipfel in Havanna kann sich Chávez als tadelloser Demokrat präsentieren. Ralf Leonhard

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