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In Israel tickt eine Zeitbombe

■ Einwanderungswelle sowjetischer Juden treibt Mietpreise in die Höhe / In den Vorstädten schlagen wohnungslose Israelis Zeltlager auf / Demonstrationen und Proteste von Obdachlosen

Aus Tel Aviv Amos Wollin

Die Obdachlosigkeit spitzt sich zu einem der größten Sozialkonflikte in der israelischen Gesellschaft zu. In Tel Aviv und Jerusalem demonstrieren verzweifelte Obdachlose gegen die Wohnungspolitik der israelischen Regierung. In den Vorstädten Israels sprießen allerorts Zeltlager obdachloser Familien aus dem Boden. Grund der Wohnungsnot: Die Einwanderungswelle aus der Sowjetunion. 50.000 Immigranten aus der Sowjetunion sind in diesem Jahr nach Israel gekommen. Allein im Juni, dem bisherigen Rekordmonat, trafen 12.000 Neuankömmlinge aus der Sowjetunion an. Bis zum Jahresende werden weitere 100.000 Menschen erwartet.

Angesichts der Einwanderungswelle hat der harte Verteilungskampf um Wohnungen eingesetzt. Zunehmend werden auch alteingesessene Israelis Opfer des Wohnungskampfes. Während die Mieten der Immigranten von den Behörden gezahlt werden, bleibt vielen jungen Israelis keine andere Wahl, als sich in den Zeltlagern niederzulassen.

Typisch ist das Zeltlager Negev in der Stadt Beerscheba. Junge Leute gründeten die Organisation „Jugend ohne Unterkunft“. Sie sprachen Beduinen in der Umgebung von Beerscheba an. Die Beduinen halfen ihnen mit praktischen Tips, wie man ein Zeltlager organisiert. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, wenn sie nicht auf der Straße stehen wollten. Denn im Laufe eines Jahres sind die Mietpreise um das Vierfache gestiegen.

Haim Bar Jaakow, der Sprecher der jungen Initiative im Zeltlager, kritisiert die Politik der Regierung. „Die Behörden wollen uns dazu bringen, daß wir in die besetzten Gebiete oder in abgelegene 'Entwicklungsdörfer‘, wo es keine Arbeit gibt, übersiedeln. In den besetzten Gebieten kommt man uns mit verschiedenen Sondervergütungen entgegen. Aber wir wollen Wohnungen in Beerscheba. Doch in den Genuß der Unterstützung, die den Neueinwanderern zuteil wird, kommen wir nicht.“

Bar Jaakow ist 32 Jahre alt, verheiratet und Vater eines 3 Monate alten Babys. Vor dem Einzug in die Zeltstadt wohnte er in einer Kleinstwohnung, für die er monatlich 150 Dollar zahlen mußte. Als der Vermieter den Mietpreis verdoppelte, mußte Bar Jaakow ausziehen. Sein Angestelltenlohn reichte nicht mehr für die Miete. „Auch unsere Eltern sind mittellos und können uns nicht unterstützen.“

Die Protestbewegung der Obdachlosen ist den Neueinwanderern nicht feindlich gesinnt. Doch die Obdachlosen verlangen gleiches Recht für alle. „Auch die Einwanderer werden nach einem Jahr - dann ist die Schonfrist vorbei, und die Mietunterstützung wird gestrichen - die gleichen Probleme haben wie wir“, sagt Bar Jaakow.

Wohnungsbauminister Scharon ist sich der explosiven Situation durchaus bewußt. „Wir brauchen in den nächsten 18 Monaten mindestens 87.000 neue Wohnungen“, sagte er vor kurzem. Doch der Wohnungsbauminister hat die Situation nicht mehr im Griff. Die Zelte in den Obdachlosenlagern vermehren sich von Tag zu Tag. Nicht nur in Beerscheba, sondern selbst in der Nähe der Knesset und des Israel Museums in Jerusalem. Es tickt eine Zeitbombe. Am Mittwoch steckten in Tel Aviv erzürnte Obdachlose Reifen in Brand, in Jerusalem kam es vor dem Haus von Premierminister Schamir zu Zusammenstößen mit der Polizei. Es herrscht Verzweiflung: Vor dem Amtssitz des Wohnungsbauministers übergoß sich ein Obdachloser mit Benzin und versuchte, sich anzustecken. Zunehmend machen sich auch Ressentiments in der Bevölkerung gegen die sowjetischen Immigranten breit.

Der Vorsitzende des Einwanderungsausschusses im israelischen Parlament, Michael Kleiner, plädierte Donnerstag für eine Änderung des Einwanderungsgesetzes. Der Likud-Politiker berichtete, daß mit Juden aus der Sowjetunion auch deren nichtjüdische Angehörige ins Land kommen. Kleiner sagte, daß nach dem jetzigen Einwanderungsgesetz mindestens fünf Millionen Menschen nach Israel einwandern könnten, die keine Juden sind.

Falls nicht bald eine Lösung gefunden wird, bleibt vielen Bürgern des Einwanderungslandes Israel nur noch eine Möglichkeit: aus Israel auszuwandern.

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