■ In Essen wurden 918 Demonstranten festgenommen: Staatsbürgerkunde mit Knüppel
Es gibt gewiß brillante Politiklehrer, deren Lektionen man sein Leben lang nicht vergißt. Doch gegen das, was die mit Knüppeln und Kampfanzügen bewehrte demokratisch legitimierte Staatsmacht am Samstag in Essen geboten hat, verblaßt jede Schulstunde. In die Köpfe der vielen Jugendlichen, die stundenlang bei strömendem Regen in drei Polizeikesseln verbringen mußten – oder die von außen ihre eingeschlossenen Freunde und Freundinnen mit Brötchen oder Limonadetüten zu unterstützen suchten –, wird sich diese Staatsbürgerkunde der alternativen Art einbrennen wie kaum ein anderes Ereignis. Wer Haß auf das demokratische System säen will, wer systemkritische junge Leute in die unerbittliche Feindschaft treiben will, der muß sich genau so verhalten, wie Polizei und die politisch Verantwortlichen es in Essen vorexerziert haben.
Die „Kritischen PolizistInnen“ liegen mit ihrer Kritik völlig richtig: Die Polizeiführung hat die Gerichte bewußt „ausmanövriert“ und so das grundgesetzlich geschützte Demonstrationsrecht ausgehebelt. In der allerletzten Sekunde wurde den Gerichten lange vorhandene „Erkenntnisse“ über das Anrücken von Tausenden gewaltbereiter Demonstranten präsentiert, die sich als ein nachrichtendienstliches Füllhorn heißer Luft entpuppten und ausschließlich einem Ziel dienten, ein beschlossenes Demoverbot auch mittels Täuschung durchzuziehen. Mit dieser Methode, die im krassen Widerspruch zu den Vorgaben des zur materiellen Prüfung der Essener Lage gar nicht fähigen Bundesverfassungsgerichts steht, läßt sich künftig jede Demonstration verbieten, zu der sich auch „unfriedliche Teilnehmer“ ankündigen. Solche Ankündigungen lagen für Essen gewiß vor, allerdings in einem völligen anderen Rahmen als dem von der Polizei behaupteten. Die politische Verantwortung dafür tragen Innenminister Herbert Schnoor (SPD) und Ministerpräsident Johannes Rau (SPD) durch die nachdrückliche Unterstützung der Verbotspolitik gleichermaßen.
Das hat mit der sonst von Schnoor so gern beschworenen „Deeskalationspolitik“ nichts zu tun. Im Gegenteil! Wenn der politische Meinungskampf um brisante politische Themen nur noch unter Schönwetterbedingungen auf der Straße zugelassen wird, dann treibt man radikale jugendliche Kritiker geradezu in den politischen Untergrund – zur Freude aller linksradikalen Fundamentalisten. Die 918 Festnahmen von Essen weisen in eine düstere Zukunft – düster für das demokratische System. Walter Jakobs
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