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Archiv-Artikel

In China an die Hand genommen

Im Reich der Mitte sind Reiseführer meist unverzichtbare Helfer im Umgang mit der fremden Kultur. Sie ermöglichen oft auch einen sehr privaten Blick auf ein Land, das zwischen kommunistischer Vergangenheit und kapitalistischer Moderne seinen Weg in die Zukunft sucht

VON NICOLE ASMUTH

In Lijiang sind wir ganz früh aufgestanden, um mit Fahrer und Führer über einsame Straßen nach Shigu zu fahren. Die typische chinesische Fahrweise hat uns nach dem Einfädeln in den Verkehr blitzartig von unserer Müdigkeit befreit. Vor jeder Kurve und während jedes Überholvorgangs wird mit Hingabe gehupt. Die PS-Zahl bestimmt im chinesischen Straßenverkehr die Rangordnung – wer sich zu Fuß oder mit einem Zweitakter fortbewegt, muss ausweichen.

Nach einer ersten kurzen Irritation haben wir uns schon während unserer ersten Etappe in Shanghai an dieses darwinistische Verkehrsprinzip gewöhnt. Nun stehen wir in Shigu auf einem Hügel vor einem mächtigen grauen Denkmal. Es zeigt einen Soldaten, der einem Bauern die Hände reicht. Alles sehr heroisch inszeniert. Es war hier, in Shigu, in den Bergen von Yunnan, wo Mao Zedong mit einem Teil seiner roten Armee den Yangtse überquerte, damals, 1936, wieder einmal auf der Flucht vor der Nationalarmee. Unterstützt wurden Maos Truppen von den Bauern, auch hier in Shigu am Oberlauf des goldenen Flusses soll das so gewesen sein. Zum Dank gab’s später dieses Denkmal.

Die historische Bedeutung des Ortes würdigt Zhang Liang mit nur wenigen Worten. Er erzählt lieber von den Dorfbewohnern, den Naxi, einer der vielen Minderheiten im großen Reich der Mitte. Es sind die Han-Chinesen, die mit 91 Prozent die Mehrheit der Bevölkerung der Volksrepublik Chinas stellen. Zhang Liang ist Han-Chinese. Er ist unser Reiseführer für die drei Tage, die wir in Lijiang verbringen. Während wir den Hügel wieder herabsteigen und das Denkmal hinter uns lassen, erzählt Zhang Liang, dass das Dorf sehr alt ist. Dass die Dorfbewohner arm sind, erzählt er nicht. Aber das ist auch nicht notwendig, man sieht es auch so.

Wir haben uns entschlossen, dieses Mal „nur“ den Süden Chinas zu bereisen. Unsere Reiseroute haben wir in Deutschland geplant, vor Ort kümmert sich die staatliche Reiseagentur CITS um uns. Sie stellt auch die Reiseführer. An jedem Flughafen erwartet uns ein neues Gesicht. Fliegen ist nahezu unumgänglich in einem Land, das immerhin 27-mal so groß ist wie Deutschland. Wer zum ersten Mal eine Reise nach China plant, muss sich entscheiden, ob er individuell oder organisiert, ob er mit oder ohne Führer reisen will.

Guter Einblick in den chinesischen Alltag

Es gibt viele Gründe, die für eine gut organisierte Reise sprechen. Chinesisch lernt man nicht einfach mal vorm Urlaub, und nur wenige Chinesen können Englisch. Daneben spricht aber vor allem der menschliche Aspekt für eine geführte Reise. Die meisten Guides fungieren nicht nur als Bindeglied zwischen den Kulturen, sondern ermöglichen oft auch einen Einblick ins private chinesische Leben. Bei Zhang Liang zum Beispiel dauert es nicht lange, und er erzählt uns beim Schlendern durch die Gassen seiner Heimatstadt Lijiang aus seinem Leben.

Er ist 23 und spricht gut Englisch. Erst vor kurzem ist er mit seinem Studium fertig geworden. Wegen der Familienpolitik der Regierung ist er wie die meisten Chinesen ein Einzelkind. Er hat eine Freundin, die ist, so erzählt er mit entwaffnender Offenheit, zwar nicht so hübsch, dafür aber sehr lieb. Gerne würde er mit ihr zusammenziehen, aber das geht nicht, noch fehlt das Geld, und auch die Familien wären dagegen. Liang ist stolz auf sein Land und vor allem auf seine Stadt. 30.000 Menschen leben in Lijiang, das fast an der Grenze zu Tibet liegt und zum Unesco-Weltkulturerbe gehört.

Die Altstadt verzückt die Massen und vor allem chinesische Touristen mit ihren kleinen Bächen, in denen das klare Wasser von den Bergen herabfließt, und mit den zahllosen Brücken, die darüber hinweg führen.

Nicht entzückt ist Liang vom schlechten Benehmen seiner Landsleute: „Die Chinesen schmatzen beim Essen und spucken auf die Straße. Sie stellen sich nie in einer Schlange an und sind schrecklich laut.“

Der Lärm in Lijiangs bunten Einkaufstraßen macht die Verständigung schwierig. Erst spät in der Nacht wird es ruhiger, wenn die Tagestouristen wieder abgereist sind. Auch wir bleiben nie lange an einem Ort. Vor zwei Nächten noch waren wir in Dali am Rande des Cang-Shan-Berges. Dort hat uns Song Huo, unsere einzige Führerin auf dieser Reise, am Flughafen abgeholt. Song Huo gehört der Minderheit der Bai an. Zuerst vermuten wir in ihrer eigentümlichen Tracht eine Verkleidung für die Touristen. Die 23-Jährige ist jedoch keineswegs die einzige, die in Dali und Umgebung das traditionelle Gewand ihrer Volksgruppe trägt. Über weißen Hosen und einem weißen Oberteil tragen hier fast alle junge Mädchen einen breiten Haarring, der prächtig mit bunten Stickereien verziert ist. Ein langer Zopf aus weißen Fäden hängt an einer Seite bis über die Schulter herab und zeigt jedem jungen Mann, dass dieses Mädchen noch zu haben ist. Mit der Verlobung und der Heirat wird der Zopf immer kürzer und verschwindet in hohem Alter schließlich ganz.

Bei Huo wippt er noch fröhlich hin und her, während sie mit uns zum Boot läuft, das uns über den Er-Hai-See zur Insel Jinsuo Dao bringt. Die Bai auf der Insel sind ebenfalls arm, sie leben vom Fischfang und von den Touristen. Die Insel ist nicht sehr groß, und die Häuser sind alt, viele stehen kurz vor dem Verfall. Eine Stunde laufen wir durch die Gassen, es ist Mittagszeit, die meisten Menschen sind beim Essen, das Dorf wirkt leer. Es beginnt zu regnen, als uns das Boot zurück nach Dali bringt. Huos Tagestour durch die 18.000-Einwohner-Siedlung führt uns zu den drei Pagoden, dem Wahrzeichen der Stadt. Seit dem letzten Erdbeben sind sich die drei Türme näher gekommen und neigen sich – schräger als der schiefe Turm von Pisa – einander zu.

Während wir die traditionelle chinesische Baukunst würdigen, gibt uns Huo einen Einblick in ihr Leben. Auch sie ist gerade erst mit ihrem Studium fertig geworden. Ihre Eltern sind Bauern. Deshalb, und weil sie einer Minderheit angehören, erlaubte ihnen der Staat zwei Kinder. Ihr Bruder allerdings, der eigentlich das Stück Land hätte übernehmen sollen, starb mit 18 Jahren an einem Hirntumor. Um ihrer aller Zukunft zu sichern, drängt ihre Mutter sie, bald zu heiraten, aber, so erklärt Huo mit todernstem Gesicht: „There are only few good men here.“ Zum Glück versteht der junge Fahrer, der uns begleitet, kein Englisch.

Auf dem Weg nach Lijiang besuchen wir dann, wie auf dieser Reise schon vorher ein ums andere Mal, eines dieser riesigen Touristengeschäfte, die irgendwie immer aus dem Nichts vor uns auftauchen. Westliche Reisende, die das „wahre China“ suchen, mögen irritiert sein vom Nepp und der Massenware, die hier verkauft wird. Man kann auch nicht immer sicher sein, echte Jade, echte Perlen und echte Handarbeit angeboten zu bekommen. Die chinesischen Touristen stört das wenig, voll bepackt kommen sie aus den riesigen Verkaufshallen und zeigen stolz ihre neuesten Errungenschaften. Westliche Touristen sollten diese Reiseunterbrechungen mit Geduld ertragen, denn in der Regel sind die Führer verpflichtet, diese Tempel des modernen Konsums anzufahren. Täten sie es nicht, müssten sie dem chinesischen Reiseveranstalter eine Konventionalstrafe zahlen.

Alte Viertel werden von Hochhäusern verschluckt

Mr Wang, unser Guide in Shanghai, dem Endpunkt unserer Reise, erzählt uns, wie viel er im Monat verdient: umgerechnet 100 Euro. In einer modernen Großstadt wie Shanghai reicht das kaum zum Leben, selbst kleine Geldstrafen tun da weh. Mr Wang ist um die 50 und hat schon bessere Tage erlebt. Früher hat er als Dolmetscher für die Wirtschaft gearbeitet und fühlte sich geachtet. Für eine chinesische Firma reiste er sogar schon einmal ins Allgäu und hat dort das Hefeweizen lieben gelernt. Heute führt er die Touristen durch seine Heimatstadt und ist auf gute Trinkgelder angewiesen. Außerdem muss er Rede und Antwort stehen und Erklärungen suchen für die Gegensätze, die sich den Fremden bei der Besichtigung der 14 Millionen Einwohner großen Metropole aufdrängen.

In Chinas größter Handels- und Hafenstadt leben die Superreichen, die sich fast jeden westlichen Luxus leisten können, neben den Ärmsten der Armen, den ungezählten Wanderarbeitern, die zwischen den Straßenschluchten ums Überleben kämpfen. Und da ist die moderne Stadt mit den gigantischen Hochhäusern, die sich unaufhörlich ins alte Gesicht der Stadt frisst und gnadenlos alte Viertel verschluckt. Nur wenig ist übrig geblieben vom historischen Shanghai, touristengerecht aufbereitet und konserviert.

Mr Wang hat es eilig. Noch stehen der Jadebuddha-Tempel und das Teehaus auf dem Programm. Erst an der berühmten Uferpromenade Shanghais wird er gesprächiger und erzählt mit einer Spur von Bitterkeit von den Problemen, die die Öffnung seines Landes mit sich gebracht hat. Er redet von Armut und Not, von Korruption und Umweltverschmutzung. Am Ufer des Huangpu-Flusses wird das auch für uns sichtbar: chinesische Flaneure in Designerklamotten neben armen Straßenverkäufern.

Die Skyline mit dem berühmten Fernsehturm auf seinen drei Beinen versinkt am anderen Ufer im Smog. Shanghai sei das Schaufenster chinesischer Reformpolitik, kann man in den Reiseführern lesen. Mr Wang sieht das anders: „Shanghai verliert seine Tradition und verkauft seine Geschichte.“

Dann hetzt er auch schon wieder weiter, als wäre er auf der Suche nach diesem verlorenen China, das er uns noch gerne zeigen würde. Und wir eilen hinterher.

Anm. der Red.: Die Namen der chinesischen Reiseführer wurden geändert.