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Archiv-Artikel

Im Takt der Alpakas

Kältelehren (2): Gipfelbesteigung in den ecuadorianischen Anden

Der Hagel schien das Dach des Busses wenn nicht zu durchschlagen, so doch zu verbeulen. Taubeneigroß waren die Eiskörner und färbten innerhalb weniger Sekunden den steinigen Boden im Andenhochland von Ecuador weiß. In einem Land, das angeblich keinen Winter hat, sah das sehr nach Winter aus. Allerdings waren die Körner genauso schnell wieder verschwunden, wie sie vom Himmel gefallen waren, und es roch danach auch anders, als Winter riecht.

Schnee ist trotzdem eine konstante Größe in den Bergen um Quito, der in knapp dreitausend Meter Höhe gelegenen Hauptstadt Ecuadors. Schnee bedeckt ganzjährig die Gipfel der Vulkanberge, deren pittoreske Formationen Alexander von Humboldt in den „Ansichten der Kordilleren“ so genau gezeichnet hat, dass man ein bisschen Zeit braucht, um den Blick von den Humboldt-Imaginationen auf den „echten“ Berg umzuschalten. Wie man überhaupt den rauschhaften Grundzustand, der einen in dreitausendsechshundert Metern Höhe im Cotopaxi-Nationalpark befällt, meint dimmen zu müssen, um nicht zu überdrehen. Schon die Lichtwechsel zwischen dem Pinienwald mit seinen auseinander stehenden Bäumen und dem Nebel im dichten Regenwald auf dem Weg zum Gipfel des Cotopaxi übersteigen die Augen- und Hirnkapazitäten und lassen einen ganz langsam gehen und mit sich selbst reden. Ganz ruhig sozusagen vorgehen gegen den Schritt des Kreislaufes.

Vor dem Aufstieg hatte einem nämlich ein unfassbar freundlich grinsender Ecuadorianer einen Canellazo, einen grandiosen Schnaps aus Zuckerrohr mit Maracujasaft, Zucker und Zimt gemischt, in einer Illy-Espresso-Tasso serviert. Der hatte einen so angewärmt, das man den Pullover ausgezogen hatte, was sich aber bereits nach zehn Metern draußen als ganz großer Fehler erwies. Die Ökonomie des An- und Ausziehens war dahin, ließ mich zittern und Mütze und Pullover wieder überwerfen. Wobei die Alpaka-Wolle, aus der Mütze und Pullover gestrickt waren, so etwas wie der Segen und der Fluch der Andenanwohner sind. Alpakas, die Haustierform des höckerlosen südamerikanischen Guanako, wurden von den Indianern der Anden seit ewigen Zeiten als Fleisch- und Wolllieferanten gehalten. Sie vertragen trockene wie wechselhafte Witterung und sind unempfindlich gegenüber starkem Wind und hohen wie niedrigen Temperaturen. Dazu wächst ihnen noch regelmäßig das Fell nach, das man dann nur scheren muss. Nur – und das wurde dann der Fluch – lassen sie sich weder reiten noch vor einen Karren spannen. Als Hernán Cortés 1519 mit Pferden und ein paar spanischen Rittern die Küste Mexikos erreichte, merkte er schnell, dass die im Takt der Alpakas gehenden Indianer viel zu langsam waren, um ihn aufzuhalten.

CORD RIECHELMANN