■ Im Schröder/Blair-Papier stecken richtige Ansätze. Aber den linken Etatismus nun durch Angebotspolitik zu ersetzen ist falsch: Der schwierige dritte Weg
Das Schröder/Blair-Papier ist kein großer programmatischer Wurf. Es ist ein ziemlich miserabel redigiertes Kompromißprodukt über den Ärmelkanal hinweg, aber immerhin eine der (raren!) europäischen Manifestationen der linken Mitte.
Was Europas Wähler darüber dachten, ist bekannt – sie haben die Linksparteien honoriert, die das Papier nicht unterschrieben haben (Jospins Parti Socialiste, Viktor Klimas SPÖ). Vor allem aber haben sie dem rosarot regierten Europa eine rechtslastige Parlamentsopposition verpaßt. Schröder und Blair sind die großen Verlierer der Europawahl, aber wer würde sich darüber freuen außer Schäuble und den Steinzeit-Tories? Daß Superverlierer Westerwelle an dieser Stelle Raub geistigen Eigentums beklagt, kann unter politischer Satire verbucht werden und wäre wohl besser auf der letzten Seite der taz erschienen. Oder möchte seine Partei mit der folgenden Aussage des Papiers Politik machen: „Wir unterstützen eine Marktwirtschaft, nicht aber eine Marktgesellschaft“?
Kurzum, neoliberal ist das Papier nicht; es kehrt dem Laissez-faire den Rücken, stellt staatliche Aufgaben ins Zentrum und bekennt sich zur sozialen Gerechtigkeit. Aber „Abschied von der alten Arbeiterbewegung“ (Bodo Zeuner) wird tatsächlich genommen – und zu Recht. Wenn wir im Zweifelsfall eine politische Wahl zu treffen hätten, wären wir auf der Seite der beiden Autoren. Denn es stimmt ja: „Die unerwünschten Auswirkungen des Wandels werden um so stärker ausfallen, je länger man sich diesem Wandel widersetzt.“
Insofern ist das Papier ein Dokument der Einsicht in frühere Illusionen: Die „Steuerungsfunktion von Märkten“ soll „durch die Politik ergänzt und verbessert, nicht aber behindert werden“ – richtig! Die Förderung der sozialen Gerechtigkeit“ ist „manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt“ worden – wohl wahr! Letztlich war zu oft „soziale Demokratie mit Konformität und Mittelmäßigkeit verbunden statt mit Kreativität, Diversität und herausragender Leistung“ – stimmt leider auch! „Allzu oft wurden Rechte höher bewertet als Pflichten. Aber die Verantwortung des einzelnen in Familie, Nachbarschaft und Gesellschaft kann nicht an den Staat delegiert werden. Geht der Gedanke der gegenseitigen Verantwortung verloren, so führt dies zum Verfall des Gemeinsinns, zu steigender Kriminalität und einer Überlastung des Rechtssystems.“
Damit wird mehr benannt als nur der Sündenkatalog einer (nicht allein sozialdemokratisch regierten) Ära des „toujours plus“, die darauf setzte, daß die Nachkriegsprosperität ewig währen würde bzw. durch Staatsverschuldung verlängert werden könnte. Aufgenommen wird hier auch ein Stück kommunitaristischer Kritik am einfallslosen liberalen Modernismus einer Linken, die meinte, daß Gemeinsinn, Vertrauen und Familie Topoi seien, die von Natur zum geistigen Besitzstand der Konservativen gehören. Unsere Kritik lautet nun: Schröder und Blair sind nicht zu weit gegangen, sie sind vielmehr nicht bereit, weit genug zu gehen. In dem Papier ist zuviel Bodo Hombach mit zuwenig Anthony Giddens verrührt worden. Die „neue Mitte“ fühlt sich heimisch im Milieu moderner Dienstleistungsunternehmen, wo man gern „Wirtschaftskompetenz“ zeigt, fremdelt aber in jenem Bereich, der das viel apostrophierte Pärchen „Kreativität & Innovation“ besser repräsentiert: im „dritten Sektor“ der Zivilgesellschaft.
Hombach will, das zeigte sein Buch zur Wahl, den Laden Bundesrepublik führen wie ein gutesManagement. Der Paradigmenwechsel des Papiers ist daher so begrenzt wie die Karriere eines militanten, Juso-nahen Vertrauensmanns zum abgeklärten Arbeitsdirektor in einem mitbestimmten Betrieb. An die Stelle des Staates und „nachfrageorientierter Politik“ tritt die Litanei „Angebotsorientierung“, obwohl solche Lehrbuchfiktionen auch nicht weiterhelfen gegen Massenarbeitslosigkeit, Überschuldung und stagnierende Produktivität.
In Schröders erster Regierungserklärung gab es eine bemerkenswerte Wendung: die Rede vom „ermunternden Staat“. Damit nahm er eine Formel aus dem Repertoire des third way auf, mit der die Neodemokraten in den USA und New Labour in Großbritannien die Rolle des Staates neu definieren wollten. Hier verläuft der politische Ärmelkanal bzw. der transatlantische Graben: Für die traditionelle europäische Linke war und ist der Staat ein Alleskönner, der auch keynesianistisch eingreifen kann und aktiv soziale Defizite beseitigt.
Dieses Leitbild verblaßte, je mehr sich politische Planung anhand sozialer Indikatoren als Trugschluß erwies. Seither gilt, vor allem im angloamerikanischen Raum, der Staat weniger als Problemlöser denn als Problemverursacher. Die Politik von Reagan und Thatcher wollte die Aufgaben des Staates auf minimale Garantien innerer und äußerer Sicherheit begrenzen. Was nirgends gelang, aber die staatlichen Wohlfahrtsaufgaben in Verruf brachte.
Allein das Scheitern des Thatcherismus rief aber noch nicht jene Aufbruchstimmung hervor, die Blair zu Beginn seiner Amtszeit trug. Sie war nicht Folge einer „anderen“ Wirtschafts- und Sozialpolitik, sondern eher einer Dezentralisierung, die nicht nur in Schottland und Wales den Bürgern mehr Selbständigkeit gab. Blairs Stil von Politik ermöglichte es den Briten offenbar, den Kontrast zu Thatcher auch dann wahrzunehmen, wenn eine sozialpolitische Maßnahme ähnlich „marktnah“ und bitter war wie unter Thatcher.
Im Schröder/Blair-Papier schrumpft öffentliche Politik nun wieder auf „richtiges“ Konfliktmanagement im Bereich Wirtschaft und Sozialpolitik. Das Wesentliche gerät somit aus dem Blick: das Netzwerk aus Individuen, Gruppen und staatlichen Institutionen, das jenseits modernisierter Verwaltungen und sozialer Dienste die Fähigkeit der Gesellschaft motiviert und prämiert, sich kooperativ zu verhalten. Welche Ressourcen ein „aktivierender“ Staat diesem Netzwerk anzubieten bereit ist, wie er sich Verhandlungsarenen öffnet, die weit über neokorporatistische Elitenkartelle im Stil des Bündnisses für Arbeit hinausreichen, darüber muß in jedem „Papier“ etwas mehr stehen, das als Diskussionsgrundlage für Europas Sozialdemokraten gelten will.
Natürlich müssen schlichte Entstaatlichungskonzepte den „Mittelstands-Bias“ berücksichtigen, der zu Recht am „dritten Sektor“ zwischen Staat, gewinnorientierten Unternehmen und privaten Haushalten kritisiert wird. Es fragt sich also: Kommt das Bild vom einzelnen als „Unternehmer“ nicht den einen mehr entgegen als den anderen? Wenn gesellschaftliche Akteure bei den Entscheidungen über Gesundheit, Bildung und Stadtentwicklung stärker einbezogen werden – ziehen dann nicht die schwächeren Gruppen erst recht den kürzeren? Und wen trifft es vor allem, wenn wieder mehr von Pflichten die Rede ist?
Das sind richtige, aber beantwortbare Fragen. Vermutlich stellt sich im Rahmen „aktivierender Politik“ die Frage der Zielgruppen anders – nicht als selektive Ausrichtung der bekannten sozialstaatlichen Versorgungsleistungen auf die „wirklich Bedürftigen“, sondern im Sinne einer deutlichen Unterscheidung zwischen dem Sockel universeller Anrechte und einem aufzustockenden Maß an Angeboten, die auf ein „enabling“ speziell der schwachen gesellschaftlichen Gruppen zielen.
Programme der Gesundheitsförderung sollten z. B. vorrangig bei denen ansetzen, die hier über das geringste Know-how verfügen. Jene Schulen und Stadtviertel, die besonders gefährdet sind, sollten vorrangig von neuen Entwicklungskonzepten profitieren. Wer das für Wunschdenken hält, sollte die Grenzen traditioneller Sozialstaatspolitik in Sachen Gleichheit nicht aus den Augen verlieren.
Die sozialdemokratische Politik der „neuen Mitte“ steht in einem Dilemma, das mehr ist als die Kluft zwischen Traditionalisten und Modernisierern. Ist, wer der Schröder-SPD nun den Rücken kehrt, enttäuscht über die mangelnde Radikalität, mit der Rot-Grün den Fürsorgestaat abbaut? Oder vielmehr darüber, daß Schröder, Riester & Fischer, anders als Kohl und Westerwelle, damit Ernst machen könnten? Könnte es sein, daß mit der im Schröder/Blair-Papier geäußerten Ambition: weniger Staat, mehr Eigenverantwortung, gerade die ominöse „Mitte“ wenig anfangen kann? Adalbert Evers Claus Leggewie
Schröder und Blair gehen nicht zu weit, sondern nicht weit genugIn diesem Papier ist zuviel Hombach mit zuwenig Giddens vermengt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen