Im Saalpublikum von "Wetten, dass..?": Beim Erfinder der Freiheit
Thomas Gottschalk bekommt bald den Grimme-Preis und hört bei "Wetten, dass ..?" auf. Zeit für einen letzten Besuch - an einem Samstagabend in Augsburg.
Nathalie und Alice haben aufgegeben. Sie werden ihrem Idol nicht begegnen - zumindest nicht an diesem Samstagabend. Verlassen lehnt ihr Plüschherz mit der ewigen Fanbotschaft "We love you" an einer Betonsäule vor dem Augsburger Messezentrum. Bis zu 300 Euro sollen junge Mädchen den Ordnern geboten haben, um reinzudürfen, einmal im selben Raum zu sein wie der kanadische Popstar Justin Bieber - einem Raum so groß wie ein Flugzeughangar.
"Wetten, dass ..?", die Queen Mary der deutschen Fernsehunterhaltung, ist in Augsburg vor Anker gegangen - zum ersten Mal seit zwölf Jahren. Elf Tage vor der Sendung sind die ersten Teammitglieder eingetroffen, Thomas Gottschalk zeigt sich erst am Freitagmittag zum ersten Mal bei einer Durchlaufprobe in der Halle, wo 250 Mitarbeiter vor, auf und hinter der 48 mal 27 Meter großen Bühne die Show vorbereiten.
Zuvor hat Gottschalk eine Wettschuld aus der vorigen Sendung eingelöst und in voller Klischeekochmontur auf dem Rathausplatz für einen guten Zweck Hendl verkauft. Oder besser: verkaufen wollen, denn der Ansturm der Augsburger, der vormittäglichen Uhrzeit entsprechend vor allem schwänzende Schüler mit Fotohandys, Hausfrauen mit pfiffigen Frisuren und professionell gelangweilte Journalisten (außer den aufgekratzten vom Lokalradio), war schlecht fürs Geschäft.
Sie waren nicht gekommen, um Gutes zu tun, sondern um Gottschalk zu sehen, "Tommy", wie sie ihn hier trotz seiner mittlerweile 60 Jahre immer noch nennen. Er habe versucht, dem Druck der Masse standzuhalten, "bis es nicht mehr hendlbar war", witzelte Gottschalk hinterher. Nach nicht mal 20 Minuten saß er wieder in seinem Fluchtfahrzeug und rauschte davon, zur Messe.
Dort zeigt sich Augsburg am Samstagabend von seiner aufgebrezelten Seite. Tickets für "Wetten, dass ..?" sind begehrt, die Nachfrage übersteigt das Angebot von etwa 2.000 Sitzplätzen pro Show um bis zu das Zehnfache. Ein Großteil der Zuschauer ist auch vor dem Besuch des Schuhputzservices eines Sponsors im Foyer schon wie aus dem Ei gepellt, als würden sie selbst gleich auf Gottschalks cremefarbenem Sofa Platz nehmen.
Eine Ehre, die allerdings nur einem kleinen Jungen aus dem Publikum vor der Sendung zuteil wird, der Gottschalk wegen seines schnieken Outfits aus Hemdchen und Weste aufgefallen ist. "Kann man sich dran gewöhnen, oder?", fragt Gottschalk, nachdem der Applaus des Publikums verebbt ist. Er braucht keine Antwort, um nachzuschieben: "Also lern was Gescheites in der Schule, sonst endest du so wie ich."
Bitte Knie zusammenpressen
In atemberaubender Frequenz haut Gottschalk während des Warm-ups, das bei ihm Chefsache ist, Sprüche raus, die nur einem Zweck dienen: dass das Publikum, das ihm ohnehin schon aus der Hand frisst, dies auch noch blind tut. Es gibt keinen besseren Gottschalk als den im Nahkampf mit seinen Fans. So abgedroschen das klingt: Er ist ein Star zum Anfassen, verteilt Autogramme und Bussis.
"Ein Foto? Ich von euch oder ihr von mir?", fragt er, als ihm die gefühlt 50. Kamera entgegengereckt wird. Als eine streikt, beruhigt er den Fotografen: "Die fangen nicht ohne mich an. Lass dir ruhig Zeit." Das Einverständnis ist schier grenzenlos. Für die Ankündigung, dass weder Libyen noch Japan in der Sendung Thema sind, erntet Gottschalk heftige Zustimmung. Bemerkbar machen wird sich einzig und allein der Unfall von Samuel Koch - ohne dass sein Name fällt: Alle Wetten des Abends gehen auf Nummer sicher.
Bevor er nach gut 20 Minuten wieder in der Kulisse verschwindet - ohne Applaus, weil er das so will, das Publikum soll sich für den Beginn der Show schonen -, bittet er die "schicken Damen" in der ersten Reihe noch, die Knie zusammenzupressen, "damit ich nicht gleich aus dem Takt komme".
Ach ja, Tommy, der ewige Pennäler! Kein anderer Entertainer verkörpert öffentlich-rechtliche Frechheit, eigentlich ein Widerspruch in sich, so wie Gottschalk. Kein Wunder: Er hat sie erfunden und wird deswegen beim Grimme-Preis Anfang April zum ersten Mal für sein Lebenswerk ausgezeichnet.
Keine fünf Minuten später, nach einem 90-Sekunden-Countdown auf der Videowand über dem Sofa, beginnt die 194. Sendung, in der sich für Gottschalk "ein Kreis schließt": "Hier in Augsburg hat mich Frank Elstner vor ungefähr 78 Jahren als seinen Nachfolger vorgestellt" - in Wahrheit war es 1987 -, hat Gottschalk im Warm-up gesagt. Kurz hatte man Angst, er würde gleich seinen Wettpaten Markus Lanz als neuen "Wetten, dass ..?"-Moderator vorstellen. Aber so lebensmüde ist selbst der Sender für die Scheintoten nicht.
Körperliche Zudringlichkeiten
Schlimm genug, dass Lanz erzählen darf, was für ein Teufelskerl er doch ist, der fürs ZDF auf Südpolexpedition geht und privat in Nord(!)grönland urlaubt - mit Zelt: "Wenn du mich quälen willst, schickst du mich drei Wochen nach Mallorca."
Dort, in der Stierkampfarena von Palma, wird Gottschalk am 18. Juni nach 24 Jahren Abschied nehmen von "Wetten, dass ..?" - bis dahin sollte das ZDF einen Nachfolger gefunden haben. Ein Gedanke, an den man sich hier nicht so recht gewöhnen will. "Thomas, verlass uns nicht!" steht auf einer der hochgehaltenen Pappen, die genauso zur Folklore dieses Formats gehören wie kreischende Teenies, Dialekt sprechende Wettkandidaten, Gottschalks Grapschereien und seine Interviewnichtigkeiten.
Wenigstens die körperlichen Zudringlichkeiten hat er offenbar an seine dauerbusselnde Komoderatorin Michelle Hunziker delegiert. Doch von Catherine Deneuve, der Grande Dame des französischen Kinos, will Gottschalk allen Ernstes wissen, ob sie schon mal ein Hotelzimmer verwüstet hat. Da würde man am liebsten in die Sofalehne beißen. Doch in der Halle gibts nur Plastikstühle - schlecht fürs Gebiss.
Apropos Gebiss: Die Deneuve und Udo Jürgens sind das Zugeständnis an die geriatrische Kernzielgruppe des ZDF auf der trotz einiger kurzfristiger Absagen mal wieder genial austarierten Gästeliste, für die Mittelalten gibts Grönemeyer und Lanz und für die Jungen Til Schweiger, Jasmin Gerat, Justin Bieber und Bruno Mars.
Vor dem Auftritt des hawaiianischen R&B-Musikers wienern drei Putzfrauen die von einer ganzen Armada von Bühnenarbeitern in weniger als fünf Minuten aufgebauten schwarz lackierten Bühnenelemente in einer Seelenruhe, die seinen Fans komplett abgeht. Die spitzen Entzückensschreie sind sogar noch lauter als bei Bieber. Was in Ordnung geht: Mars kann wenigstens singen, und ihm hängt kein Lamettapuschel hinten aus der Hose.
Ein einsamer Justin-Bieber-Fan sitzt übrigens auch im Presseblock gegenüber der Showbühne. Sie heißt Elina, ihr Vater ist Journalist und ist ihr zuliebe zu Hause geblieben. Wenn er gewusst hätte, dass er seine Tochter damit dem irgendwie und irgendwarum anwesenden Krawalljournalisten Henryk M. Broder zum Fraß vorwirft, der sie sofort in ein Interview verwickelt, hätte er sich das wohl anders überlegt. "Ein Fall von zivilisierter Unterhaltung" sei das gewesen, konstatiert Broder nach der Sendung, die mit unterdurchschnittlicher Verspätung um 23 Uhr zu Ende geht. Selbst ein Thomas Gottschalk kann sich seine Fans eben nicht aussuchen.
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