Im Rock-’n’-Roll-Stuhl

Wer gerne tanzt, aber kein Angebot findet, gründet selbst eine Gruppe: Rollstuhlfahrer und „Fußgänger“ trainieren jede Woche bei „Rock and Wheels“ – auch wenn der Trainer mal fehlt

VON CHRISTIAN VATTER

Wenn die Musik ausgeht, wird es hektisch: Der Telebus kommt. Schnell hat sich die Gruppe aufgelöst und das Licht in der Turnhalle gelöscht. Zeit, nach dem Training ein Schwätzchen zu halten oder etwas trinken zu gehen, bleibt nicht. Die Tanzgruppe „Rock and Wheels“ besteht zur Hälfte aus Rollstuhlfahrern, und die sind nun mal auf einen Fahrdienst angewiesen. „Den muss man lange vorher bestellen“, sagt Janna Baranek (20), die auch im Rollstuhl sitzt. „Es gibt viel zu wenig Fahrdienste. Und bei den vielen Aufträgen stehen die unter Zeitdruck.“

Dafür fängt das Training der Gruppe sehr entspannt an: Der erste Tanz ist ein langsamer Walzer. Zu säuselnder Musik, die nach Elvis klingt, bewegen sich jeweils ein Rollstuhlfahrer und ein „Fußgänger“ durch die Turnhalle. Sie halten sich an den Händen. Mal schiebt der Tänzer auf Füßen den auf Rädern, mal zieht er ihn. In federnden Schritten geht er neben ihm – erst links, dann wieder rechts, dann dreht sich der Fahrer. Bei den Drehungen halten sich beide noch an einer Hand, so wie jedes andere Tanzpaar auch. Mit dem Unterschied, dass der Rollstuhlfahrer mit der freien Hand ein Rad festhalten muss, damit sich das Gefährt um die eigene Achse dreht. Trotzdem sind die Bewegungen weich und harmonisch. Es beruhigt, sie zu betrachten.

Der Eindruck, dass die Tanzfiguren immer vom Fußgänger ausgehen, täuscht: „Beide müssen über Druck auf den Armen die Bewegungen herbeiführen“, sagt Angela Beyer (30), die „Rock and Wheels“ Anfang 2003 gegründet hat. „Und nicht bei jedem Rollstuhl drehen sich die Räder gleich leicht um die Achse.“ Es gibt keine festen Paare im Training, sodass jeder Fußgänger es mal mit einem leicht-, mal einem schwergängigeren Rollstuhl zu tun bekommt.

Angela Beyer sitzt wegen einer spastischen Lähmung im Rollstuhl. Getanzt hat sie schon vor „Rock and Wheels“ viel, aber alle Gruppen lösten sich auf. Bis sie die Initiative ergriff: Ein Link im Internet und Mundpropaganda brachten die Leute zusammen. Jeden Montag trainiert die Gruppe jetzt in einer Lichtenberger Schule. Als Trainer hat sie sogar einen Tänzer aus dem Ensemble des Friedrichstadtpalasts organisiert. Wenn der mal fehlt, übernimmt Uwe-Michael Wasserleben (22) die Leitung – einer der Fußgänger. „Ich tanze viel in Diskotheken und auch zu Hause“, sagt er später. Erst will er sich gar nicht äußern. „Jetzt komm doch mal her!“, rufen ihn die anderen. „Ja, ja, er hört schwer“, sagt jemand und lacht. Er will nicht hören, soll das wohl heißen. Aber als Wasserleben näher kommt, sieht man zwei Hörgeräte. Angela Beyer wiegelt ab: „Wir sehen das locker mit dem Begriff Behinderung. Manche finden ja das Wort grundsätzlich schlimm. Es kommt aber darauf an, wer es sagt und wie er es sagt.“ Am besten sei der Begriff „Menschen mit Handicap“, da sind sich alle einig.

Dann ertönt schnellere Musik im Boygroup-Stil: Ein Formationstanz soll einstudiert werden. Uwe-Michael Wasserleben weist die Fußgänger ein. Was sie üben, sieht ganz nach MTV aus: Da haben Take That und N’Sync ihren Einfluss hinterlassen. Die Rollstuhlfahrer bilden dazwischen einen Kreis, fahren aufeinander zu und entfernen sich wieder voneinander. Sie drehen sich um die eigene Achse, indem sie die zwei großen Räder gegenläufig bewegen. Dann werfen sie die Arme nach oben – alles synchron. Das ist nicht einfach. Alle sind angespannt. „Wir sind auch schon auf Turnieren aufgetreten, bis jetzt aber außerhalb des Wettbewerbs“, erzählt Dirk Albrecht (33). Der Fußgänger pausiert gerade, er hat die vorherigen Male gefehlt und kennt die Schrittfolge noch nicht. Vor sieben Jahren hat er ein Mädchen in einer Diskothek zwischen Fußgängern tanzen sehen. „Ich war begeistert, wie sie mit ihrem Rollstuhl umging.“ Sie seien ins Gespräch gekommen und hätten später sogar zusammen getanzt. Seitdem ist er bei „Rock and Wheels“ dabei.

Die nächste CD wird eingelegt: „Zum Schluss tanzen wir immer Disco-Fox“, erklärt Dirk Albrecht und ist gleich wieder mit von der Partie. Los geht’s mit stampfender Musik. Bei „Cotton Eye Joe“ weicht die Anspannung von vorher: Kein Paar muss sich jetzt mehr nach den anderen richten. Und zu Kylie Minogues „I Can’t Get You Out Of My Head“ werden die Bewegungen immer schneller. Und Janna Baranek singt sogar noch mit, während sie ihren Rollstuhl um die eigene Achse dreht. Ein ernstes Training ist das jetzt nicht mehr: Die TänzerInnen improvisieren. Ein Fußgänger beugt sich lasziv über eine Rollstuhlfahrerin, andere drehen sich nur noch, dass einem vom Zusehen ganz schwindlig wird.

„Rock and Wheels“ trainiert jeden Montag von 18 bis 20 Uhr in der Carl-von-Linné-Schule, Paul-Junius-Straße 15, Lichtenberg. Neue Tänzer sind willkommen – vor allem Fußgänger. Infos unter: (0 30) 50 10 80 12 oder www.mit-mensch.com.