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Archiv-Artikel

Im Reich der Alltagslügen

Er war ein Dialogartist und atmosphärischer Feingeist. Am Montag ist der französische Regisseur und Schriftsteller Eric Rohmer im Alter von 89 Jahren gestorben

Leicht dahingeworfen, verspielt wirken Rohmers Filme. Doch hinter dem, was die Figuren äußern, lauert immer auch das Nichtgesagte, Verschwiegene

VON NICOLE HESS

Als Eric Rohmer vor einigen Jahren in Venedig das Drama „Die Lady und der Herzog“ (2001) vorstellte, wirkte der über 80-jährige Regisseur zerbrechlich. In sich zusammengesunken, stellte er sich in einem dunklen, stickigen Raum des Nobelhotels Baur den Fragen der Journalisten. Dabei nuschelte er so stark, dass einzelne Sätze auch nach mehrmaligem Abhören des Tonbandes nicht zu verstehen waren. Wenn er über die Protagonisten seines Historienfilms sprach, die königstreue Grace Elliott und den Herzog von Orléans, einen adligen Revolutionär, blitzte in seinen Augen jedoch ein Feuer auf. Der moralisch-intellektuelle Disput war sein Zuhause.

Die Vorliebe für das gesprochene und geschriebene Wort kam nicht von ungefähr: Rohmers erste Liebe galt der Literatur. 1920 als Jean-Marie Maurice Schérer in Tulle geboren, studierte er klassische Literatur und unterrichtete in Paris. Wie bei seinen Weggefährten, mit denen er die Nouvelle Vague begründete – Godard, Truffaut, Chabrol und Rivette – führte der Weg zum eigenen Filmschaffen über die Kritikertätigkeit. 1948 veröffentlichte er seinen ersten Artikel in der Revue du Cinéma, ab 1951 schrieb er regelmäßig für die Cahiers du Cinéma und publizierte dort unter anderem filmtheoretische Essais wie „Zelluloid und Marmor“. 1959 wurde er Chefredakteur der von André Bazin gegründeten Filmzeitschrift.

Noch bevor sich der Homme de Lettres in den Fünfzigerjahren, in einem Klima des cineastischen Aufbruchs, mit den Kollegen der Cahiers an die Realisierung eigener Kurzfilme wagte, hatte er in einer andern Sparte die Saat für das spätere Oeuvre gelegt. 1946 war bei Gallimard der Roman „Elisabeth“ eines gewissen Gilbert Cordier erschienen – Rohmer benützte mehrere Pseudonyme –, ein scheinbar unbeschwertes Sommerstück, das auf frappante Weise das thematische und atmosphärische Spektrum seines Filmuniversums vorwegnimmt.

Auf einem Landsitz in der französischen Provinz lässt der Autor während des Sommers 1939 einige Jugendliche aufeinander treffen, die sich in Freundschaft oder Liebe zugetan sind. Psychologisch versiert beschreibt er die Annäherungen und Distanzierungen, die Tändeleien, Täuschungsmanöver und Trennungen, die sich aus den Begegnungen ergeben. Was aus den präzisen Beobachtungen des Alltags entsteht, ist ein luftiges, filigranes, auch kapriziöses Beziehungsgeflecht, wie es Rohmers schönste Werke, etwa „Pauline am Strand“ (1982) oder „Herbstgeschichte“ (1998), kennzeichnen wird.

Die Beziehung von Mann und Frau, aber auch der Geschlechtsgenossen untereinander, die erotische Anziehung, Liebe, Eifersucht und Rivalitäten – das ist der Stoff, aus dem die feinsinnigen Dramen Rohmers gesponnen sind. Wie kein anderer Vertreter der Nouvelle Vague legt er den Schwerpunkt der Auseinandersetzung auf den mündlichen Disput. Egal, ob im berühmten Film „Meine Nacht bei Maude“ (1969) ein Katholik, ein Kommunist und eine blonde Frau eine Nacht lang über Ehe, Moral, Religion und Pascal debattieren; ob in der Kriminalkomödie „Die Frau des Fliegers“ (1981) ein Student und eine zufällige Bekannte über eine vermeintliche Ehefrau phantasieren; oder ob die Antagonisten aus „Die Lady und der Herzog“ für und gegen die Schreckensherrschaft argumentieren: Die Dialoge beherrschen die Szenerie. Sie sind von einer Schärfe, einem impliziten Humor und einer Brillanz, die den menschlich und philosophisch geschulten Autor verraten.

Die Liebe zur Sprache hat Rohmer, dessen mehr als fünfzig Filme umfassendes Oeuvre zum Großteil aus Zyklen – „Moralische Erzählungen“, „Komödien und Sprichwörter“, „Erzählungen der vier Jahreszeiten“ – besteht, regelmäßig in Literaturverfilmungen gepflegt. Wechselweise in theatralisch stilisierten, historisch rekonstruierten oder natürlichen Kulissen entstanden höchst eigenwillige Adaptionen. So jene der „Marquise von O.“ (1976) nach Heinrich von Kleist, die er mit Schauspielern der Berliner Schaubühne drehte, oder „Perceval le Gallois“ (1978) nach Chrétien de Troyes, in der das Ensemble mittelalterliche Verse spricht.

Die Dialoglastigkeit wurde dem Autor und Regisseur, der gemeinhin als theoretischer Kopf der Nouvelle Vague gilt, nicht selten als (zu) intellektueller, auch papierener Umgang mit den Mitteln des Kinos ausgelegt. Tatsächlich spielt die Handlung in seinen Dreiecks- und Vierecksgeschichten eine untergeordnete Rolle, und die Kamera übernimmt den Part eines in jeder Hinsicht unauffälligen Beobachters. Zudem sind die Inszenierungen von formaler Strenge geprägt. Das schlichte, auf das Notwendige reduzierte Setting lässt die Schauspieler dafür umso dominanter ins Licht der Leinwand treten: Jean-Louis Trintignant und Marie-Christine Barrault in „Meine Nacht bei Maude“, Arielle Dombasle und Pascal Greggory in „Pauline am Strand“, Marie Rivière und Béatrice Romand in „Herbstgeschichte“ – das sind Paarungen, deren zugleich vitale und fragile Beziehungen in der Filmgeschichte einzigartig geblieben sind.

In der Schauspielführung hat dieser Filmemacher, neben seinen schriftstellerischen Fähigkeiten, eine besondere Virtuosität entfaltet. Kompromisslos verpflichtete er die Darsteller auf die tragenden Rollen, indem er ihnen – nach eigenem Bekunden – die Freiheit der Interpretation überließ. Und er wusste, wieso. In ihrer Macht lag es, auszudrücken, worum es in den so leicht dahingeworfenen, verspielten Erzählungen geht: Dass hinter dem, was die Figuren äußern, immer auch das Nichtgesagte, Verschwiegene oder auch nur Gemeinte lauert. Seine Filme sind Meisterwerke der Doppelbödigkeit, der Unaufrichtigkeit, der Täuschung.

Kein anderer Regisseur hat den Echoraum der Alltagslügen subtiler auszuloten verstanden als Eric Rohmer. Darin liegt vermutlich das Geheimnis seiner seltsam schwebenden Konversationsstücke. Es ist der verständnisvoll-melancholische Blick auf die Condition humaine.