: Im Land der gefährlichen Mambas
Ein Amerikaner, der die Deutschen ohne Schuldgefühle und erschreckend ehrlich erlebt hat: „Die unsichtbaren Trümmer“, James Sterns Erinnerungen an das Nachkriegsdeutschland
Was sich hier in den Trümmern abspielte, trug Züge absurden Theaters. Die Fassade des Hauses war weggebombt, aber die Familie saß lebhaft debattierend im Wohnzimmer, nebenan kochte die Mutter in der Küche. Von der Straße aus konnte man wie auf eine Bühne in die offene Wohnung schauen, und immer wieder ging James Stern wie ein Theaterbesucher hin zu dieser Stelle mitten im völlig vom Krieg zerstörten Nürnberg.
Die Erinnerungen von James Stern, die 1947 erstmals in den USA veröffentlicht und über ein halbes Jahrhundert später unter dem Titel „Die unsichtbaren Trümmer“ auch ins Deutsche übertragen wurden, sind ein ganz eigenes und besonderes zeitgeschichtliches Dokument. In Irland geboren, in England aufgewachsen und gegen Kriegsende wohnhaft in New York, hatte James Stern vor 1933 mehrere Jahre in Deutschland gelebt und als Bankangestellter in Frankfurt gearbeitet. Das wiederum qualifizierte ihn für den schwierigen Job, mit dem die US-Regierung die Mentalität der Deutschen nach dem Krieg untersuchen wollte. Stern, der als Literaturagent und Übersetzer arbeitet, vor allem von Büchern deutscher Emigranten, und in den Fünfzigerjahren das umstrittene Nachkriegstagebuch der Anonyma, „Eine Frau in Berlin“, übersetzt hat, kommt 1945 in ein Land, das ihm einerseits vertraut, andererseits vollkommen fremd geworden ist.
Er besucht Orte und Menschen, die er vor dem Krieg kannte. Frankfurt am Main ist nicht mehr wieder zu erkennen, die Innenstadt ist vernichtet, Heidelberg dagegen scheint vollkommen unversehrt zu sein. Frauen bummeln hier in weiß leuchtenden Blusen durch die Straßen, die Geschäfte sind geöffnet, als sei nichts gewesen. Dann wieder sieht er in Nürnberg verwahrloste Kinderbanden durch die Trümmer huschen, abgestumpfte barfüßige Jugendliche, denen jegliche Gefühlsregungen abhanden gekommen sind.
Die Interviews, die er mit ganz gewöhnlichen, repräsentativ ausgewählten Deutschen führt, sind für Stern meist eine lästige Pflicht, manchmal aber auch schockierende Erlebnisse. Egal wen er spricht, Schuldgefühle scheinen diese Deutschen nicht zu kennen, sie sind zum Teil sogar erschreckend ehrlich. Eine Krankenschwester hält den Nationalsozialismus immer noch für eine gute Idee. Da die Juden in ihrer Mehrheit diese Idee bekämpft hätten, so meint sie im Brustton der Überzeugung, habe man während des Krieges keine andere Wahl gehabt, als Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Und ein junger Arzt nennt das Verhalten der Deutschen gegenüber den Juden zwar eine Kulturschande, aber die Internierung aller Juden sei angesichts des Krieges notwendig gewesen, die Nazis hätten ihre gut organisierte Herrschaft einfach übertrieben.
Andere Befragungen verlaufen eher skurril. Wenn etwa eine Prostituierte von ihrer Arbeit während der Reichsparteitage erzählt und äußert, sie habe längere Zeit im Ausland gelebt, weil sie „nie unter den Nazis arbeiten“ wollte. Sich selbst nimmt James Stern nicht aus von den schonungslosen Schilderungen – er beschreibt etwa, wie er aus Frust so schnell mit dem Jeep über die Landstraßen fegt, dass „sich die sonntäglichen Kirchgänger wie die Hühner in die Straßengräben retten mussten“. Man erfährt nicht nur Erstaunliches über die Besiegten, beim zufälligen Besuch eines amerikanischen Soldatenfriedhofs wird Stern damit konfrontiert, wie hoch die Selbstmordrate auch unter den hier stationierten GIs ist. Gerade wurden zwei Soldaten beerdigt, die sich gemeinsam erschossen hatten. Diese „dicken Kumpels“ waren aus dem Leben getreten, nachdem aus den USA die Nachricht kam, dass einer der beiden Vater geworden sei.
Man glaubt Stern die Rolle des staunenden Betrachters, der mit neugierigem Blick diesem Land begegnet und teils fasziniert, teils abgestoßen beobachtet, wie diese merkwürdigen Deutschen sich in der Katastrophe einrichten. In Gesprächen mit früheren Bekannten, Intellektuellen und Professoren entdeckt James Stern zum Teil schlimmere, nur eben viel subtiler geäußerte Revanchegelüste als in den Interviews mit überzeugten Nationalsozialisten.
Am Schluss erscheinen ihm die nur scheinbar geläuterten intelligenten Deutschen wie heimtückische Mambas: ruhig, aber auf der Lauer. Ein Buch über Deutschland, das den heutigen Leser ebenso verblüfft vor diesem Volk stehen lässt wie den fremden und zugleich kenntnisreichen Beobachter James Stern. CHRISTIAN BERNDT
James Stern: „Die unsichtbaren Trümmer – Eine Reise im besetzten Deutschland 1945“. Aus dem Englischen von Joachim Utz, Klaus Binder und Bernd Leineweber. Eichborn Berlin, Berlin 2004, 408 Seiten, 24,90 Euro