Im Fußballland: Schafe in der Unterführung
Christoph Biermann erinnert sich an den Besuch des Petersdoms, der nicht in Rom, sondern in London steht.
Es war in den schlechten alten Zeiten, als ich zum ersten Mal den Weg zum Wembley-Stadion machte. Ich ging über den Empire Way auf die Zwillingstürme zu, das Erkennungszeichen des Stadions, und fühlte mich so unbehaglich, wie das im Frühjahr des Jahres 1990 bei einem Fußballspiel in England üblich war. Vor den Toren hatten die gut organisierten Banden von Schwarzhändlern noch bündelweise Eintrittskarten und verkauften sie zu astronomischen Preisen. Die Zuschauer wirkten im Zeitalter des Hooliganismus auch hier wenig heiter, obwohl sie doch einem ewigen Klassiker entgegensahen: England gegen Brasilien in Wembley, ein Hochamt im Petersdom des Fußballs.
Wembley war damals ein Ort gesättigt von Sportgeschichte. Hier fanden die legendären englischen Pokalendspiele statt, vor denen die Zuschauer den Choral "Abide with Me" anstimmten. Hier waren Spieler im Laufe von 90 Minuten zu Helden für die Ewigkeit geworden und unvergessene Tore gefallen, wie jenes im WM-Endspiel 1966, das einen eigenen Namen bekam, obwohl es doch eigentlich keines war: Wembley-Tor. Der beste Fußballrasen der Welt hatte ebenfalls einen eigenen Namen. Wembley-Rasen sagte man, wenn das Grün besonders gut war. Auch ein deutscher Sehnsuchtsort war dieses Stadion, seit hier 1972 Günter Netzer aus der Tiefe des Raumes gekommen war.
Doch wenn man diese historische Patina außer Acht ließ, war an Wembley fast alles falsch. Anders als englische Stadien sonst, war es keines von denen, die man damals "rein englische Stadien" nannte. Es war nicht dicht am Platz, sondern ein Oval und die ersten Reihen ein gutes Stück weit vom Spielfeld entfernt. Die Ränge zogen sich viel zu flach, sodass man keine Aussicht hatte, und das Dach wurde von Pfeilern gestützt. Ich saß hinter einem und gab mir größte Mühe, dem vor mir Sitzenden nicht mit meinen Knien die Ohren zuzuhalten, was angesichts eines Sitzabstandes, für den sich sogar knapp kalkulierende Billigflieger schämen würden, ziemlich schwierig war.
Doch unangenehmer noch als der Pfeiler waren die Männer um mich herum, die offensichtlich von einem Castingbüro als Musterbeispiele des englischen Fußballprolls ausgesucht und in die Kurve gesetzt worden waren. Sie vermochten selbst durch einfaches Dasitzen ein Gefühl der Bedrohung zu verbreiten, das sich auch dadurch nicht legte, dass die Begegnung zwischen England und Brasilien so lausig und langweilig war, dass ich mich an wenig von dem erinnern kann, was auf dem Rasen passierte, selbst an den 1:0-Siegtreffer von Gary Lineker nicht.
So verließ ich an diesem überdies kühlen und verregneten Abend wenig vergnügt das Stadion. Auf dem Weg zur U-Bahn musste noch eine Unterführung durchquert werden, die sich als perfekte Szenerie für Klaustrophobiker entpuppte. Auch ohne Veranlagung zur Platzangst schnürte sich einem mit jedem Schritt, den man inmitten der Menschenmenge ins Halbdunkel des nicht viel mehr als mannshohen Tunnels tat, die Kehle mehr zu. Auf einer Länge von hundert Metern schoben sich die Zuschauer quälend langsam voran, und jeden Moment, so glaubte ich, könnte hier eine Panik ausbrechen. Ich war bestimmt nicht der Einzige, der davon fantasierte, unter ineinander verknäulten Leibern zu ersticken, als es plötzlich stockte.
Ich begann sofort zu schwitzen. Da rief einer "Mäh!", und die Umstehenden lachten über den Schafimitator. "Mäh!", rief ein Zweiter, und wieder wurde gelacht. "Mäh!", riefen nun Weitere, bald waren es ein Dutzend, und es wurden immer mehr. "Mäh! Mäh!" Innerhalb weniger Momente hatte sich die Menge in eine Herde gut gelaunter Schafe verwandelt. Die Männer mit den kurzen Haaren und den bulligen Nacken hatten das Gefühl der Bedrohung in einen Witz aufgelöst. Auch ich rief "Mäh!", es war so erstaunlich wie befreiend.
Die Unterführung gibt es heute nicht mehr; im neuen Wembley stören auch keine Pfeiler, und das Stadion ist dreimal so hoch gebaut, sodass man überall gut sehen kann. Wahrscheinlich ist auch das Publikum angenehmer, doch ob es noch über die Fähigkeit verfügt, sich im rechten Moment in eine Schafherde zu verwandeln, das weiß ich nicht.
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