■ Im Elend der Vorstädte bietet der Islam den Jugendlichen Halt: Neue Religiosität
Wie ihre europäischen Landsleute sind auch die meisten Kinder der maghrebinischen Einwanderer in Sachen Religion völlige „Analphabeten“. Ihre Eltern waren wirtschaftlich und auch kulturell arm; nur wenige von ihnen sind selbst religiös unterrichtet worden. Dennoch sind in den Banlieues, den großen französischen Vorstädten, seit zwei, drei Jahren Vereine junger Muslime aufgetaucht. Diese Gruppen könnten bei der Bewältigung der sozialen Probleme einen zentralen Platz einnehmen. Bis heute sind alle Versuche gescheitert, das Elend in den Banlieues politisch zu vereinnahmen; es herrscht ein ideologisches Vakuum, viele Sozialarbeiter haben aufgegeben. In dieser Situation öffnet sich denjenigen Raum, die im Glauben ihrer Väter einen Weg zum Heil entdecken.
Für Menschen, die scheinbar keine Zukunft haben, bietet der Koran einen Sinn. Für Jugendliche, deren menschliche Würde ständig verletzt wird, bietet der Islam eine aufgewertete Identität. Einem ganzen Milieu, das vom Trauma der Immigration zerrüttet und vom Ausschluß geprägt ist, bietet der moslemische Glaube neuen Halt. Viele der Einwanderkinder, der Beurs, haben nie eine väterliche Autorität gekannt, das französische Gesetz empfinden sie als ungerecht. Jetzt machen sie freiwillig die Vorschriften des Islams zu ihrem Gesetz. Hätten ihre Brüder oder Freunde den Koran kennengelernt und befolgt, dann wären sie – so denken viele – dem Gefängnis oder dem Tod entkommen. Tatsächlich gelingt es diesen moslemischen Gruppen in unseren Cités – wie den Evangelisten in den schwarzen oder puertoricanischen Ghettos der amerikanischen Großstädte –, Jugendliche aus der Hölle der Droge zu entreißen.
Diese eifrigen „Missionare“ haben kein materielles oder politisches Eigeninteresse – das macht ihre Überzeugungskraft aus. Ihre Vorschläge erlauben es den Jugendlichen, gemeinsam ein Ideal zu verfolgen, denn der Islam stellt sich den Gläubigen vor allem als Forderung nach Gerechtigkeit dar. Die meisten dieser Gruppen, ob nun fundamentalistisch oder mystisch inspiriert, wurden von jungen Leuten mit lauter guten Absichten gegründet. Für sie wird es jedoch sehr schwierig sein, den Kämpfen um Einfluß zu entkommen, die sich die verschiedenen Gruppen der islamischen Gemeinschaft liefern. Christian Delorme
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