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Im Dschungel von Calais gestrandet

Das Thema Flucht ist nicht mit Merkels „Wir schaffen das“ vom Himmel gefallen. Bereits 2011 hat Chris Grodotzki in seiner Kontext-Fotoreportage auf das Elend der Flüchtlinge bei Calais aufmerksam gemacht. Das Thema lässt ihn nicht los: Derzeit ist er mit der Sea-Watch 4 auf dem Mittelmeer unterwegs – mit 350 geretteten Flüchtlingen an Bord.

Sommer 2011: Willkommen in Calais, der Stadt der Gesichtslosen. Hocksha ist einer von vielen Hundert sogenannten „illegalen Immigranten“, die auf ihrer Reise in Calais, dem Tor nach Großbritannien, hängengeblieben sind. Während er in der Einfahrt des „African Squat“, einer von afrikanischen Flüchtlingen bewohnten Industrie-Ruine, Wache steht, bereiten seine Mitbewohner das gemeinsame Abendessen vor. Foto: Chris Grodotzki

Von Susanne Stiefel↓

Der Dschungel von Calais ist heute ein Naturschutzgebiet hinter Zäunen. Und der African Squat unserer Bildreportage wurde wenige Monate nach diesen Aufnahmen geräumt. Doch die Geflüchteten gibt es immer noch rund um Calais, an anderen Orten, in anderen Wäldern, in anderen Ruinen. Seit der Schließung des Rot-Kreuz-Camps von Sangatte im Jahr 2002 entstehen in der gesamten Region immer wieder solche ille­galen Lager, in denen MigrantInnen auf den großen Sprung nach Großbritannien warten. Insofern ist unsere Fotoreportage aus dem Jahr 2011 leider keine Vergangenheit, sondern aktuell wie damals. Auch deshalb haben wir sie aus unserem Archiv gezogen. Weil wir finden, dass Erinnern helfen kann, die Zukunft endlich besser zu machen.

Wer erwischt wird, darf hungern. Kurz vor der einzigen Mahlzeit am Tag festgenommen, gibt’s die Nacht über im Knast nichts zu essen und am nächsten Morgen muss wieder gefastet werden. Die Polizei weiß das und rückt auch deshalb zur Abendessenszeit an. Für eine halbe Stunde nach jeder Razzia wirkt der African Squat wie eine Geisterstadt. Dann kommen die Flüchtlinge langsam zurück: Verstecke gibt es – im Gegensatz zu allem anderen – genug.

Und deshalb gehen wir noch weiter zurück als die fünf Jahre bis zu Merkels berühmten Merksatz. Papierlose gibt es eben nicht nur in Calais. Menschen ohne Papiere gibt es auch in Deutschland. Ja, sogar in Stuttgart. Auch darüber haben wir in einer der ersten Ausgaben berichtet. Menschen starben und sterben immer noch an den Grenzen Europas, das Mittelmeer wurde und wird auch heute noch zum Grab für viele Geflüchtete, und auch das nicht erst seit fünf Jahren. Eine EU-Flüchtlingspolitik, die den Namen verdient, wurde bisher nicht daraus. Merkels Satz wäre nicht nötig gewesen, wenn sich Europa auf einen gemeinsamen und humanen Umgang mit Geflüchteten hätte einigen können.

Zermürbende Suche nach einem sicheren Hafen

Doch eine solche Einigung war und ist auch heute nicht in Sicht. Weiterhin wird die Festung Europa nach außen abgeschottet, werden Griechenland und Italien, werden die Länder an den EU-Außengrenzen, allein gelassen. Es ist ein humanitärer Offenbarungseid, unter welchen Bedingungen etwa die Menschen im hoffnungslos überfüllten Flüchtlingslager auf Lesbos leben müssen. Schon vor Corona, aber jetzt auch mit Corona.

Diesen Abend stürmt die Polizei gleich drei Mal von verschiedenen Seiten in den Squat. Beim dritten Mal haben sie Karim erwischt. Auf den Brachflächen hinter dem Squat erwarteten ihn drei Polizisten.

Und auf dem Mittelmeer geht das große Sterben ungebremst weiter. Viele NGOs wollen dabei nicht länger zusehen. Dazu gehören seit fünf Jahren auch die Aktivisten von Sea-Watch, die im vergangenen Jahr den Stuttgarter Friedenspreis der Anstifter erhalten haben. Und Chris Grodotzki, der vor neun Jahren bei Kontext seine ersten fotografischen Schritte gemacht hat, ist auch heute wieder mittendrin und leidenschaftlich mit dabei: An Bord der Sea-Watch 4, die bereits bei ihrem ersten Einsatz jetzt im August zum letzten Rettungsanker für viele MigrantInnen wurde. „Schlechte Verbindung und keine Zeit, wir haben derzeit 200 Geflüchtete, sind grade auf der Suche nach einem Hafen“, sagt der 31-jährige Kollege kurz angebunden am Mobiltelefon, bevor die Verbindung abbricht.

Der African Squat wirkt wie ein Drittwelt-Slum mitten in Europa: kein fließend Wasser, keine Toiletten, keine medizinische Versorgung und kaum Hilfe in Sicht. Wie in vielen europäischen Ländern ist es auch in Frankreich illegal, Flüchtlinge zu unterstützen. Nimmt man beispielsweise einen „Illegalen“ im Auto mit oder gibt ihm eine Unterkunft, kann dies als „Beihilfe zur illegalen Einreise“ verfolgt werden.

Anfang vergangener Woche hatte die 60 Meter lange Sea-Watch 4 schon 200 Schiffbrüchige aufgenommen. Vier Tage später erreichte die Besatzung ein verzweifelter Hilferuf der „Louise Michel“. Dieses Rettungsschiff ist vom britischen Street-Art-Künstler Banksy bemalt und finanziert worden. Jetzt war das nach einer feministischen Anarchistin benannte Schiff hoffnungslos überfüllt mit aus Seenot geretteten Menschen und damit manövrierunfähig. Die Sea-Watch 4 eilte ihrem Partnerschiff zu Hilfe. Seitdem hat sie rund 350 MigrantInnen an Bord. Die Suche nach einem sicheren Hafen dauerte zermürbende vier Tage und war erst Dienstag Abend zu Ende. In Palermo können die Geflüchteten an Land gehen. Die Erleichterung ist groß und Chris Grodotzki mal wieder mittendrin – wie schon vor neun Jahren in Calais.

Aus seinen Eindrücken von dort, von den Begegnungen mit den Geflüchteten aus Eritrea, Afghanistan oder Sudan, von seinen Gesprächen mit den UnterstützerInnen vor Ort und seinen vielen Besuchen am Ärmelkanal hat der junge Reporter auch multimedial berichtet. Dafür wurde er 2012 mit dem dpa-Nachwuchspreis ausgezeichnet. „Chris Grodotzki ist seinen Protagonisten, den gestrandeten Flüchtlingen in Calais, auf beeindruckende Weise nahegekommen. Und er versteht es, seine Geschichte auf angemessene, zurückhaltende Weise multimedial zu erzählen“, begründet Jurymitglied ­Jochen Wegner, Chefredakteur von „Zeit online“, die Entscheidung. „Die Stadt der Gesichtslosen“ – auch dieses Stück aus unserem Archiv halten wir weiterhin für sehenswert.

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