: Im Bann des Meisters
Aus der französischen Rentnertruppe ist ein Heldenensemble um Zinedine Zidane geworden. Jetzt kommt auch noch Arroganz ins Spiel: Mit dem Finalgegner haben sie sich bisher noch nicht befasst
AUS HAMELN ANDREAS RÜTTENAUER
Es herrscht nervöses Treiben in der Rattenfängerhalle zu Hameln. Ein letztes Mal vor dem großen Finale haben sich die Journalisten hier versammelt. Ein wenig überdimensioniert wirkte der riesige Raum in den ersten Tagen des Turniers. Da verloren sich nicht selten weniger als 50 Journalisten in der Halle. Dass eine große Mannschaft vor den Toren der Stadt Quartier genommen hat, war dem Ort im Weserbergland nicht anzusehen. Mit 10.000 Fans aus Frankreich hatte das Tourismusamt gerechnet. Gekommen sind anfangs ein wenig mehr als 100. Die meisten Zuschauer bei den zwei öffentlichen Trainingseinheiten waren Einheimische. Von WM-Stimmung, Euphorie gar – nichts zu spüren.
Jetzt am Tag vor der Abreise der Mannschaft nach Berlin wirkt das Pressezentrum gar nicht mehr zu groß. Mit jedem Erfolg der Franzosen hat die Rattenfängerhalle mehr Menschen angezogen. Auch die Fragen, die gestellt werden, haben sich mit der Zeit geändert. Schon vor dem ersten Spiel gegen die Schweiz waren die französischen Medienvertreter sicher, dass sich Trainer Raymond Domenech auf dem Holzweg befindet. Sein WM-System mit lediglich einem Stürmer vor Spielmacher Zinedine Zidane wurde in Frage gestellt, das Alter der Mannschaft kritisiert, die Stimmung im Team als schlecht beschrieben. Am Infostand der Stadt Hameln konnten die Pressevertreter erfahren, dass der Sportkomplex wegen der eigenwillig geformten Oberlichter von den Hamelnern Fünf-Särge-Halle genannt wird. Ein passender Spitzname für den Ort, an dem sich eine tote Mannschaft präsentiert, wurde gewitzelt.
Aus der Rentnertruppe ist längst ein Heldenensemble geworden. Aus den Fragen ist jeder Hauch von Kritik gewichen. Der Trainer, die Spieler werden um eine Einordnung des bislang geleisteten in die Fußballhistorie gebeten, werden nach ihren Gefühlen gefragt. Sie dürfen ihre eigene Größe besingen. Über den Finalgegner Italien ist eher wenig zu vernehmen. Auch nicht vom Nationaltrainer. Raymond Domenech hatte sich schon tags zuvor der Presse gestellt und das Friedensangebot der Journalisten gnädig angenommen. Über ihn sind in den vergangenen Wochen böse Texte erschienen. Als ahnungsloser Oberlehrer wurde er verspottet. Jetzt wird er beinahe bewundert für seinen Mut. Mit Klinsmann’scher Sturheit hat er von Beginn an vom Finaleinzug gesprochen.
Gut gelaunt schleicht der Präsident des französischen Fußballverbands durch das Teamquartier. „Eine schöne Revanche“ für den Trainer sei der Finaleinzug, „er hat gezeigt, dass er einfach Recht hatte“, sagt Jean-Pierre Escalette, der sich in den vergangenen zwei Jahren des Öfteren für die Beförderung des ehemaligen U-21-Nationaltrainers rechtfertigen musste. Domenech reagiert auf seine Weise: „Lesen Sie noch mal Ihre Notizen“, raunzt er den Journalisten zu. „Das ist sicher komisch, aber nicht für mich.“
Nachdem die französische Presse also eine Art Waffenstillstand mit Domenech geschlossen hatte, machte man sich wieder daran, weitere Heldengeschichten zu schreiben. Die tägliche Hymne auf Zinedine Zidane hätte die meisten Journalisten gern mit ein paar Originalzitaten des schweigsamen Meisters ausgeschmückt. Doch der schweigt weiter. Ersatzstürmer Sydney Gouvou wird den Journalisten vorgesetzt. 31 Minuten hat er bei diesem Turnier gespielt. Deshalb wird er gar nicht erst nach seinen persönlichen Erwartungen gefragt. Er soll als Augenzeuge des Geschehens im Mannschaftsquartier Bericht erstatten. Nein, sagt er, man habe sich noch nicht so intensiv mit dem Gegner befasst. Es sei schlecht, den Druck zu früh aufzubauen. Man versuche den Alltag im Schlosshotel Münchhausen so zu gestalten, als stünde ein normales Match an. Ja, Zinedine Zidane habe auch schon einmal mit ihm geredet. Was macht Zidane zu einem so außergewöhnlichen Spieler, wird Gouvou gefragt. „Sie müssen ihm doch nur auf dem Platz zusehen“, lautet die Antwort. Ob er das nicht besser sehe? „Ich sehe auch nichts anderes als Sie, ich stehe nur ein bisschen näher dran.“
Nein, es ist nicht wirklich viel zu erfahren an diesem Tag. Nur die Lust der französischen Journalisten ist zu spüren, die Lust ein letztes großes Kapitel in der Fußballerbiografie des Zinedine Zidane zu schreiben. Vielen wäre es wohl am liebsten, Zidane würde den Titel ganz allein gewinnen. Der Meister hat sie in seinen Bann gezogen. So wie im Märchen der Rattenfänger die Kinder von Hameln.