Il Cinema Ritrovato in Bologna: Die Zukunft der Vergangenheit
Eine Woche lang suspendiert das Kino den Alltagsbetrieb und wird von seiner eigenen Geschichte überschwemmt: Il Cinema Ritrovato in Bologna.
Ein Schriftzug schiebt sich quer über das Bild: „Die Pflicht“. Der Leuchtturmwärter Bréhan rafft sich auf und geleitet ein von Wind und Wellen gebeuteltes Schiff sicher in den Hafen mithilfe desselben Scheinwerfers, der seinem Sohn vorher zuerst den Verstand und dann das Leben gekostet hatte. Wenn Bréhan vom Film, in einer Art kinematografisch-religiösen Intervention, zur Ordnung gerufen wird, dann hat man im Kinosaal eine tour de force sondergleichen hinter sich: „Gardiens de phare“ aus dem Jahr 1928, ein später Stummfilm des französischen Meisterregisseurs Jean Grémillon, ist ein ekstatischer Film über das Licht und die Psychose; und also auch ein Film über das Kino.
Der Leuchtturm des Films wirft sein Licht nicht nur aufs Meer, in erster Linie verwandelt er das Innere des Turms in eine rhythmisch illuminierte Höhle. Mehrmals richtet sich die Kamera auf die Lichtquelle selbst und auf die diese umkreisenden rotierenden Blenden – der Film nähert sich der reinen Abstraktion an, als deren Rückseite sich eine Familientragödie entfaltet.
Andere Spuren in diesem geheimnisvollen Film führen zu einem tollwütigen Hund, zu einem frenetischen Volkstanz und zu drei Frauen, die in einem Haus am sicheren Ufer warten und mal ängstlich, mal sehnsuchtsvoll auf den Leuchtturm blicken.
Aktualität des Archivs
„Gardiens de phare“ ist einer jener Filme, über die man sich direkt nach dem Verlassen des Kinosaals unbedingt mit anderen Besuchern unterhalten möchte; schon, weil man sicher gehen möchte, dass die Bilder auch von anderen wahrgenommen wurden und nicht den eigenen Träumen entsprungen sind. Grémillons Film war eine der größten Entdeckungen des diesjährigen Il Cinema Ritrovato, eines Festivals, das von der Cineteca di Bologna ausgerichtet wird und sich spezialisiert hat auf historische Filmprogramme. Filme aus den letzten drei Jahrzehnten werden nur in Ausnahmefällen vorgeführt, die Spannbreite reicht von der frühen Stummfilmzeit – eine Programmschiene präsentierte das Kino des Jahres 1912 – bis zu den Kinematografien der sechziger und siebziger Jahre.
Was das Festival allerdings durchaus interessiert, ist die Aktualität der Archivarbeit: Jahr für Jahr präsentieren Restauratoren aus aller Welt ihre aufwändigsten Projekte und geben einen Eindruck von der Zukunft der Vergangenheit des Kinos. Auch die wird, daran ließ das diesjährige Festival keine Zweifel, weitgehend dem digitalen Bild gehören.
Wer jedoch in Bologna die kraftvoll pulsierenden Farben einer alten Zelluloidkopie von John Boormans New-Hollywood-Meisterwerk „Point Blank“ gesehen hat, der wird sich wünschen, die Zukunft möge sich noch eine ganze Weile gedulden – oder zumindest der Historizität des materiellen Gegenstands Film, in den sich noch bis vor Kurzem mit jeder einzelnen Projektion Gebrauchsspuren eingetragen haben, auf die eine oder andere Art Rechnung tragen. Nicht so sehr mit der Digitalisierung selbst, aber umso mehr mit dem Hochglanzfetischismus der High-Definition-Gegenwart ist und bleibt ein materialbewusster Umgang mit Filmgeschichte radikal inkompatibel.
Verschroben und schön
Als kleines, dreitägiges Liebhaberfestival hatte das Cinema Ritrovato 1986 begonnen, seit ungefähr zehn Jahren befindet es sich im Zustand der ständigen Expansion: mehr Kinosäle, mehr internationale Gäste, mehr Filmreihen, mehr Filme. Und gleichzeitig weniger Wiederholungen: Oft genug muss man sich zwischen zwei Raritäten entscheiden, was man einmal verpasst, kommt nicht wieder – manches, zumindest in analoger Form, vielleicht tatsächlich: nie wieder.
Auch der gerade für ein filmhistorisches Festival erstaunlich sorglose Umgang mit dem Material sorgte für einige Verstimmung: Kaum eine Vorführung ging ohne kleine oder größere technische Pannen über die Bühne.
Dennoch bleibt das Cinema Ritrovato unvergleichlich und unersetzbar. Dieses Jahr war der Stummfilmpionierin Lois Weber ein Programm gewidmet, ein anderes Filmen, die die Weltwirtschaftskrise 1929 reflektieren; den Hollywood-Routinier Raoul Walsh konnte man ebenso entdecken wie japanische Filme aus den frühen Dreißigern.
Und eben Jean Grémillon, einen hervorragenden Stilisten und Meister aller Tonarten: Zwölf Filme wurden in Bologna vorgeführt, kurze Dokumentarfilme aus den Zwanzigern, klassisches Starkino aus den Dreißigern („Geule d’amour“, mit Jean Gabin als Frauenheld), verschrobene Melodramen aus den Vierzigern („Pattes planches“).
Humanistisches Komplementärwerk
„Le ciel est à vous“ von 1944, den schönsten der in Bologna vorgeführten Tonfilme Grémillons, kann man als humanistisches Komplementärwerk zur expressionistischen Opferfantasie „Gardiens de phare“ nehmen: ein zartes Drama im realistischen Stil über ein Ehepaar, dessen Liebe in der gemeinsamen Begeisterung für die Luftfahrt ein weiteres Medium findet.
Damit Thérèse Gauthier den Weltrekord im Langstreckenflug aufstellen kann, setzen die beiden, gegen die Vernunft und gegen die Gesellschaft, die gemeinsame materielle Existenz und sie schließlich auch sogar ihr Leben aufs Spiel. Grémillon interessiert sich bei alldem nicht für Liebestod-Pathos, sondern nur für die rührende Hilflosigkeit zweier Menschen, die ihren eigenen Gefühlen schutzlos ausgeliefert sind.
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