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Archiv-Artikel

Ideologie: Pragmatismus

Auch gemeinsam werden SPD und Union die Republik nicht grundlegend verändern. Aber beide sind stärker aneinander gebunden, als sie es selbst wahrhaben wollen

Es zeigt sich: Der freizügige Umgang mit nicht vorhandenen Steuereinnahmen ist keine SPD-Eigenheit

Rechtzeitig zum Start der neuen Regierung hat der Rat für deutsche Rechtschreibung für eine auch in politischer Hinsicht wünschenswerte Klarstellung gesorgt. Die große Koalition, die nun regiert, wird wieder groß geschrieben. Sie rangiert damit – rechtzeitig zum Jahr der Fußball-Weltmeisterschaft – auf einer Linie mit der Ersten Bundesliga und steht über der großen Welt, die in Deutschland nach wie vor klein geschrieben wird.

Es mag einstweilen dahin gestellt bleiben, welchen Einfluss das Wahlergebnis vom 18. September auf die sprachliche Höherstufung hatte. Doch kann man diese Maßnahme als der Sache angemessen betrachten. Denn es ist nicht allein die zahlenmäßige Größe, welche der großen Koalition ihre Bedeutung verleiht. Wie keine andere Parteienkonstellation ist sie dazu angetan, nicht allein einen Mehrheitswillen zu exekutieren, sondern das Gemeinwohl zu repräsentieren. Union und SPD sind nach wie vor die Formationen, in denen die unterschiedlichen Milieus und deren partikularen Interessenslagen zu einem Willen der Gesamtgesellschaft gebündelt werden.

Wo die rot-grüne Koalition noch geprägt war von Lager- und Generationenkonflikten, als deren ideologische Speerspitzen sich SPD und Union zeitweise gerierten, dominiert nun wieder die breite Mitte. Diese Politik der Mitte ist ohne Alternative seit Angela Merkel mit ihrem liberalen Wirtschaftskonzept bei der Wählerschaft gescheitert. Eine andere Zwei-Parteien-Regierung ist auf absehbare Zeit unwahrscheinlich geworden, jede Drei-Parteien-Konstellation birgt einen ungleich größeren Konfliktbogen, und lediglich mit der „linken Mehrheit“ verbindet sich gleichfalls eine politische Erzählung – auch wenn diese in vielen Ohren wie ein Märchen aus uralten Zeiten klingt.

Es ist die Erfolgsgeschichte des deutschen Korporatismus, welche die Vorstellung einer Politik der „linken Mehrheit“ belebt. Bezeichnenderweise wurde dessen Blütezeit von der ersten großen Koalition in den Sechzigerjahren geprägt, als das Wort Globalsteuerung Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch fand und sich der Kurs dieser Steuerung aus der Vorstellung speiste, dass jedem ein gerechter Anteil am gemeinsam Erwirtschafteten zustehe.

Nichts kennzeichnet die Situation zu Beginn der zweiten großen Koalition mehr als der Zerfall dieses Korporationsprinzips auf betrieblicher Ebene. Waren die sieben rot-grünen Jahren davon geprägt, dass die Politik dem Auseinanderdriften von Wirtschaftsentwicklung und gesellschaftlichen Bedürfnissen nicht mehr entgegensteuern konnte, was sich in der Krise der Sozialdemokratie manifestierte, so markiert die nun zu beobachtende Gleichzeitigkeit von exorbitanten Unternehmensgewinnen und Massenentlassungen eine Krise der „neoliberalen“ Vorstellung, dass die Angebotspolitik letztlich eine bessere Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sei. Die liberale Botschaft, dass Leistung sich lohne, weicht der Erkenntnis, dass auch gute Leistung vor Entlassung nicht schützt. Auf diesem Boden wachsen Sicherheitsbedürfnisse, aber keine Gesellschaftsvorstellungen.

Konsequenterweise ist die bisherige Politik der großen Koalition geprägt von einem muddling through, das in Ermangelung einer großen Linie den Pragmatismus zur Ideologie erhebt. Dass führende Personen, sowohl Angela Merkel als auch Franz Müntefering, diesen Pragmatismus habituell verkörpern, stärkt das Vertrauen in die Regierung. In beiden manifestiert sich eher das ebenso von den Feuilletons niedergeschriebene wie von den breiten Massen goutierte Kleinstädtische, Provinzielle der deutschen Politik. Und an dessen bislang ungeschlagenen Meister, Helmut Kohl, erinnern auch die ersten Taten dieser Regierung.

Gemäß seinem Vorbild hat Angela Merkel die Einigung beim EU-Gipfel herbeigeführt, sich dafür feiern lassen und hinterher gezahlt. Und in Fortsetzung der Neunzigerjahre wird nun wieder ein Koalitionsmanagement des „do ut des“ gepflegt, das weniger den Vorgaben einer an Nachhaltigkeit orientierten Haushaltspolitik folgt, als der Ruhe am Kabinettstisch dient und den partiellen Profilierungsbedürfnissen der Koalitionäre folgt. In den bisherigen Verhandlungen hat der Bundesfinanzminister meist den Kürzeren gezogen, und spätestens der Vorstoß zur flächendeckenden Einführung des Kombilohns hat gezeigt, dass der freizügige Umgang mit nicht vorhandenen Steuereinnahmen keine sozialdemokratische Eigenheit ist.

Mit dem Kombilohn scheitert der letzte große Versuch einer marktkonformen Beschäftigungsförderung. Dieses Scheitern verweist auf das strukturelle Dilemma, dass die intendierten Effekte angesichts leerer Kassen nur durch ein Absenken des Sozialhilfeniveaus erreicht werden können. Die Nutzung der zweiten staatlichen Einflussgröße auf den ersten Arbeitsmarkt, des Tarif- und Kündigungsrechts, wurde wiederum von der SPD dem konservativen Prinzip geopfert, dass nicht der Zustand, sondern dessen Veränderung unter Legitimationszwang steht. Und die dritte Variante, die Lage auf dem Arbeitsmarkt strukturell zu verbessern – die Wertsteigerung des Humankapitals durch bessere Bildung –, haben die Koalitionspartner einträchtig vollends in die Hände der Bundesländer gelegt. Dort war sie, wie seit Pisa bekannt, schon immer schlecht aufgehoben.

Die Kombination aus Union und SPD bündelt unterschiedliche Milieus und Interessen zum Gemeinwohl

Der zentrale Erfolgsparameter beider Parteien reduziert sich damit auf klassische Konjunkturpolitik, auf Investitionsprogramme und Bauförderung. Die Aussichten auf ein höheres Wirtschaftswachstum sind nicht schlecht, zumindest weit besser als die dadurch zu erwartenden Beschäftigungseffekte. Es wird allerdings keinem der Koalitionspartner reichen, das Eigenprofil zu schärfen. Da beide Parteiformationen jedoch in einer Identitätskrise stecken und deshalb erkennbare Mobilisierungsschwächen zeigen, ist bei ihnen bereits nach wenigen Monaten gemeinsamen Regierens das Bedürfnis unüberhörbar, sich voneinander abzusetzen.

Das wird gut gehen, solange die Kontroversen im Parlament ausgetragen werden und das Regierungshandeln nicht ideologisch aufgeladen wird. Denn ein Konflikt ist für keine von beiden erfolgsträchtig, solange sich damit nicht eine Botschaft verknüpft, die auf die fundamentale Verunsicherung der gesellschaftlichen Mitte antwortet. In diesem Unvermögen sind sie absehbar geeint.

Zugleich wurde die Konkurrenz zwischen SPD und CDU in den letzten Jahren maßgeblich durch das wechselnde Wahlverhalten der unteren sozialen Schichten geprägt. Doch an deren Lage wird sich unter einer großen Koalition noch am wenigsten verbessern. Das mag deren Bereitschaft steigern, dem Populismus der Linkspartei zu folgen. An der politischen Konstellation würde sich dadurch kaum etwas ändern. Denn es gehört zu den Eigentümlichkeiten der großen Koalition, dass sie den Keim ihrer Dauerhaftigkeit bereits in sich trägt. Jeglicher Verlust an Wählerstimmen macht eine Fortsetzung umso wahrscheinlicher. DIETER RULFF