: Ich war ja dabei !
Der Chor der Zeitzeugen singt mitunter falsch: Geschichte ist eine Konstruktion, vor allem die eigene
VON CLEMENS NIEDENTHAL
Irgendwann im letzten Jahrzehnt eines vergangenen Jahrhunderts war meine Großmutter auf einmal von Interesse für die Wissenschaft. Sie, die Nebenerwerbsbäuerin, die Katholikin, der Dorfmensch, saß auf einmal vor dem Kassettenrekorder zweier Feldforscherinnen aus der nahen Universitätsstadt. Und weil die Fehde mit dem größten Bauern im Dorf nun auch schon einige Jahre zurücklag, erzählte meine Oma eine Geschichte, die sich so freilich niemals ereignet hatte.
Alle gemeinsam, fast das ganze Dorf, hätten damals in der guten Stube des dicksten Bauern ein Wunder in Bern verfolgt. Dabei war es damals wahrscheinlich einzig der Bauer selbst, der Helmut Rahn aus dem Hintergrund schießen sah. Den Fernseher hatte man ihm im Dorf ohnehin nicht gegönnt. Genauso wenig wie den Lantz-Bulldog, der das Ochsenfuhrwerk meiner Großmutter beständig überholte. Jetzt, wo längst beide ihre letzte Kuh zur Schlachtbank geführt haben, sitzt man auch wieder gemeinsam in derselben Kirchenbank. Und erfindet eine gemeinsame Geschichte.
„Keiner lügt so konsequent wie ein Zeitzeuge“, lautet ein Poesiealbumspruch der Geschichtswissenschaften. Der Zeitzeuge erzählt bestenfalls seine ganz persönliche Wahrheit. Und wahrscheinlicher sogar seine ganze persönliche Lüge, an die er selbst vielleicht sogar am festesten glaubt. Nun ist ein Zeitzeuge selbst dafür natürlich kaum zu belangen. Schließlich bezeugt er seine Geschichte ja nicht vor Gericht – sondern im Rampenlicht der medialen Vergangenheitsvergegenwärtigung.
Der Zeitzeuge, und das verdeutlicht ein Jahrestag wie der morgige besonders signifikant, taugt unter den Bedingungen unserer Retromoderne sogar zum doppelten Helden. Dem der Gegenwart, die Scheinwerfer, Mikrofone und Kameras auf ihn gerichtet hat. Und dem des Gestern, das in seiner Geschichte lustvoll wiederbelebt wird. Denn auch das bietet der Zeitzeuge: das größere Erlebnisangebot gegenüber der trockenen Geschichtslektüre.
Letztlich ist es egal, ob es Walter Benjamin oder Andy Warhol war, der jedem Menschen die Rolle des Stars, des aus der Masse hervorgehobenen, für viel zitierte 15 Minuten zugestanden hat. Der Zeitzeuge erweitert diese These um ein nicht zu unterschlagende Komponente: Auch wer selbst nur dabei war, als ein anderer seine ruhmreiche Viertelstunde hatte, kann davon 40 oder 60 Jahre später erzählen. Um es selbst zu einem Besonderen unter den Gewöhnlichen zu bringen, muss man also nur irgendwann, irgendwo dabei gewesen sein.
Die Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften, ja mithin unsere Vorstellung von der modernen Welt und ihrem Werden, wären nichts ohne den vielstimmigen Chor der Zeitzeugen. Ein Chor, der ein wenig den Chören der griechischen Tragödien gleicht. Passt aber dieses Bild, so stellt sich die Frage, wer denn die Helden dieser Tragödie wären. Die Hitlers, Speers und Herbergers, an die sich die Erinnernden erinnern? Oder die Geschichtsprofessoren und Medienhistoriker, die den Chor in ihr Geschichtsstück einstimmen lassen?
„Geschichte von unten“ war einmal das Schlagwort, mit dem Volkskundler oder Sozialwissenschaftler die akademische Ära der Zeitzeugenbefragung eingeläutet haben. Einfache Menschen sollten ihre mitunter recht komplizierten Geschichten erzählen. So wichtig dies alles war, um unser Verständnis der Vergangenheit zu demokratisieren, droht dieses Modell doch an einem spezifischen Punkt zu scheitern: an dem nämlich, an dem das Zeitbezeugen zum Medienspektakel wird.
„Trauen Sie nicht der Erinnerung der Zeitzeugen, sie dekonstruiert und rekonstruiert sich andauernd selbst“, sagt der britische Historiker Eric Hobsbawm. Was allerdings genauso auf den Historiker und letzten Endes eben auch auf die Historie selbst zuzutreffen scheint. Geschichte kennt keine Wahrheit. Um Wahrhaftigkeit aber muss es im künftigen Umgang mit den Menschen gehen, die da der Wissenschaft oder dem Medienbetrieb ihr Innerstes ausschütten.
Wie so etwas funktionieren kann, zeigt die Berliner ZeitZeugenBörse, die die in ihrer Kartei geführten Mitglieder in regelmäßigen Seminaren und Supervisionen über die Verantwortung, aber auch über die Relativität ihrer Geschichtserzählungen aufklärt. Wie nicht, demonstrierte die Bild-Zeitung, als sie am 22. April 23 ehemalige Hitler-Jungen auf die Titelseite hob, die dann Papst Benedikt XVI. gegen die von Teilen der britischen Presse proklamierten HJ-Vorwürfe verteidigen durften.
Vom Philosophen Hermann Lübbe stammt die These, dass der Sinn für Geschichte neben dem für das Religiöse zu den Modernisierungsgewinnern zähle. Beides suggeriere Gewissheit in vermeintlich unsicheren Zeiten. Und beides lädt ein zu ausschweifenden Inszenierungen. Wie werden sich die Zeitzeugen erst mal an die vatikanischen Wochen im April 2004 erinnern?