Die Welt braucht mehr Floskeln (6a): Ich liebe dich
■ Über die Sprachlosigkeit zu zweit
Es gibt unendlich viele Grußformeln. „Guten Tag“, „Hallo“, „Guten Morgen“, „Guten Nachmittag“ oder „Hi“ bieten einen unerschöpflichen Vorrat, einander auch ohne Floskelhaftigkeit etwas zu wünschen und ein Gespräch zu beginnen. Ärmlich wird's dagegen schon bei Anreden in Briefen. Soll man „Sehr geehrte ...“ oder „Lieber ...“ schreiben? Doch selbst dieses Problem ist harmlos im Vergleich zum Repertoire, das uns die deutsche Sprache zur Verfügung stellt, um einander die Liebe zu bekunden.
Am Anfang einer großen Liebe kommt einem das „Ich hab dich lieb“ oder das „Ich mag dich ganz besonders überaus“ noch leicht über die Lippen. Der Grund: Man kann sich noch steigern. Doch kaum ist die einzige wichtige Formel, auf die vor allem Frauen von der ersten Minute an warten, einmal gebraucht, ist das Dilemma groß: „Ich liebe dich“ – und dann?
Dann sind wir sprachlos. Vor allem, wenn auch die einzig mögliche Steigerung „Willst du mich heiraten?“ verbraucht ist. Habe ich nicht gerade vor zwei Tagen „Ich liebe dich“ gesagt? Welchen Wert hat dieses – erst durch leichtes Bauchgrummeln und angehende Tränendrüsenreizung glaubwürdige – Bekenntnis dann noch? Keinen! Es wird zur Floskel, die von manchen Leuten so oft gebraucht wird wie von anderen Leuten ein „Guten Tag“. Deshalb brauchen wir dringend mehr Liebesbekenntnisse. Deshalb rufen wir von hier in die Welt: Die Vorschläge „Ich verehre dich“, „Ich schätze dich“, „Du ergötzt mich“ oder „Du lässt es klingeln“ sollten nicht mehr länger als Floskeln gelten. Christoph Köster
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