: „Ich hatte panische Angst“
■ Überraschender Freispruch für Prostituierte, die auf einen Freier einstach / Richter: „Entschuldigter Notwehr-Exzeß“ Von Kaija Kutter
Mit Freispruch endete gestern ein Prozeß vor dem Bergedorfer Amtsgericht gegen eine ehemalige Prostituierte, die im Juni 1993 einen Freier mit 15 Messerstichen verletzt hatte. Die Tat war ein „entschuldigter Notwehr-Exzeß“, urteilte Amtsrichter Wolfgang Albrecht und sicherte Haftentschädigung zu. Die Frau hatte fünfeinhalb Monate in Untersuchungshaft verbracht.
„Auch als Prostituierte habe ich ein Recht darauf, als Mensch behandelt zu werden“, beendete Marianne S. ihre Aussage, die einen düsteren Einblick sowohl in ihr Leben als auch in das des Freiers brachte. Der 68jährige Willi S., der als Schäfer sein Dasein in einem Wohnwagen am Elbdeich fristet, hatte die damals Drogenabhängige mit Stoff versorgt und eine Nacht in seinem Domizil schlafen lassen.
Als „Gegenleistung“ war ein Geschlechtverkehr ausgemacht, der, weil die obdachlose Marianne S. übermüdet war, auf den nächsten Tag verschoben wurde. Wieder fuhr der Schäfer mit der jungen Frau zum Hauptbahnhof, besorgte ihr Stoff und trank derweil, so berichtete die Angeklagte, mindestens vier Flachmänner Korn.
Zurück im Wohnwagen habe sie sich den Schuß setzen wollen und Willi S. gebeten, sie noch ein bißchen in Ruhe zu lassen. Marianne S.: „Ich hatte die Nadel noch im Arm, da hat er mich aufs Bett gezogen“. Nackt auf ihr liegend habe der Freier „Mundverkehr“ an ihr vollziehen und anschließend ohne Kondom in sie eindringen wollen. Marianne S. weigerte sich, beides war nicht abgemacht, beides war ihr zuwider.
Schließlich habe Willi S. sie an einem schmerzenden Abszeß am Arm gepackt und gewürgt. „Ich hab versucht, ihn wegzudrängen und griff nach dem Messer. An die Sekunden danach kann ich mich nicht erinnern“.
Die Heftigkeit der Reaktion erklärte sich die Frau, die inzwischen eine Therapie gemacht und sich ein neues Leben aufgebaut hat, mit ihrer Kindheit. Sie sei oft geschlagen und sogar gewürgt worden: „Ich kriege panische Angst, wenn man mir an den Hals geht.“
Der Schäfer, der stark blutete, aber nicht lebensgefährlich verletzt wurde, schmiß Marianne S. aus dem Wohnwagen. Sie floh zu Nachbarn, rief einen Krankenwagen und ließ in einem Bergedorfer Krankenhaus ihren Abszeß und eine Schnittwunde, die sie sich selbst zugefügt hatte, verarzten. „Erst als ich am nächsten Tag verhaftet wurde, wurde mir klar, daß da was passiert war“.
Der Freier konnte gestern mit einer derartig differenzierten Schilderung nicht dienen. „Wir wollten ins Bett, da kam der erste Stich“, sagte er vor Gericht. Die von Staatsanwalt Klaus Rebsdat mehrfach gestellte Frage, warum Marianne S. denn zugestochen haben könnte, konnte Willi S. nicht erklären. Auch einen übermäßigen Alkoholkonsum stritt er energisch ab.
Selbst der Staatsanwalt schenkte im Plädoyer der Angeklagten mehr Glauben: „Da muß etwas vorgefallen sein. Sonst macht das keinen Sinn“. Im Hinblick auf das Rechtsgut der „körperlichen Unversehrheit“ forderte er dennoch zehn Monate auf Bewährung. Verteidigerin Alma Diepold plädierte für eine mildere Geldstrafe.
Den überraschenden Freispruch erklärte Richter Albrecht mit einer simplen Folgerung: Stiche in den Rücken könne Willi S. nur bekommen haben, weil er bereits auf der Frau lag. Albrecht: „Er hatte also angesetzt, den Geschlechtsakt zu erzwingen, obwohl sie nicht wollte“. Dies sei eine versuchte Vergewaltigung, gegen die sich die in Panik geratene Anklagte wehrte. Wegen der Häufigkeit der Stiche handle es sich um einen „Notwehr-Exeß“, der aber „entschuldigt“ sei.
Für die 163 Tage U-Haft bekommt Marianne S. eine Entschädigung – 20 Mark pro Tag.
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