: „Ich bin traumatisiert von 68“
KINO Der Schauspieler Edgar Selge über seinen neuen Kinofilm, die Ähnlichkeiten zwischen BRD und DDR und die Verdrängungsfähigkeit des Menschen
■ Familie: Geboren am 27. März 1948 in Brilon, aufgewachsen in Herford als Sohn eines Gefängnisdirektors mit einem Faible für exzessives Klavierspiel und preußische Tugenden. Seit 1985 verheiratet mit der Schauspielerin Franziska Walser, Tochter von Martin. Zwei Kinder: Tochter Marie ist Balletttänzerin, Sohn Jakob wird ebenfalls Schauspieler. ■ Beruf: Seit dem Abschluss an der Münchner Falckenbergschule 1975 hat Selge an praktisch allen großen deutschsprachigen Bühnen gespielt, vor allem unter den Regisseuren Dieter Dorn und später Jan Bosse. Einem breiten Publikum bekannt wurde Selge durch Helmut Dietls „Rossini“ (1997) und durch den Münchner „Polizeiruf 110“, in dem er seit 1998 und am 8. November zum letzten Mal den einarmigen Ermittler Tauber gibt.
INTERVIEW DAVID DENK
taz: Herr Selge, Sie wollten unbedingt mit der taz über Ihren neuen Film „Im nächsten Leben“ sprechen. Warum glauben Sie, dass er bei taz-Lesern besonders gut aufgehoben ist?
Edgar Selge: Weil das ein Film ist, der vorbildlich mit der Befindlichkeit von Menschen umgeht, die einen großen Teil ihres Lebens in der DDR gelebt haben. Dass das ein Unrechtsstaat war, steht für mich völlig außer Frage. Man muss aber immer auch bedenken, dass diese Menschen trotzdem das Gefühl haben, durch die Wende etwas verloren zu haben. Sie haben ja versucht, sich ihr Leben dort so lebenswert wie möglich zu machen.
„Das Gefühl, dass sicher geglaubte Strukturen von einem Tag auf den anderen zusammenbrechen können, bestimmt bis heute das Leben meiner Eltern“, sagt Regisseur Marco Mittelstaedt.
Ja, die politischen Strukturen der DDR sind von einem auf den anderen Tag zusammengebrochen – aber das ist nicht das Leben. Deshalb bricht ein Staat überhaupt nicht so plötzlich zusammen. Diesen Riesenunterschied machen wir Westdeutschen uns immer nicht so klar.
Mittelstaedt hat seinen Vater, an dessen Biografie der Film angelehnt ist, dafür verurteilt, dass er gleich nach der Wende von der DDR-Nachrichtenagentur ADN zu Bild gewechselt ist: „Für mich war er damals der größte Wendehals, und ich schämte mich bodenlos.“
Ich finde es sehr nachvollziehbar, dass viele Menschen nach dem Zusammenbruch eines solchen Staates eher auf der glamouröseren Seite des Lebens stehen möchten: dass sie also entweder behaupten, immer im Widerstand gewesen zu sein, oder sich ganz schnell auf die Seite des Westens schlagen. Das würde mir auch so gehen. Denn es ist doch viel unangenehmer, auf die eigenen Trümmer zu gucken, auf die Ängste, die man erlitten hat. Es steht mir als Westdeutschem nicht zu, darüber zu richten. Die Verdrängungsfähigkeit des Menschen ist doch auch eine positive Kraft, die uns befähigt, mit neuem Elan neue Dinge anzufangen, uns neu zu definieren.
Warum hat Mittelstaedt keinen ostdeutschen Schauspieler für Ihre Rolle besetzt?
Das war auch das Erste, was ich ihn gefragt habe: Warum nimmst du nicht Hübchen? Oder Gwisdek? Und es gibt ja noch so viele andere. Die beiden fallen mir nur gerade ein, weil ich den Gwisdek ganz gut kenne und der Hübchen in meinem Alter ist. Und der Marco sagte: Er habe Angst davor, dass die sich so gut mit der DDR auskennen. Er suche eher einen Schauspieler, der einer solchen Biografie unsicher gegenüber steht, sich die Figur erobern muss. Das ist unter künstlerischen Gesichtspunkten ein interessanter Standpunkt, also habe ich zugesagt.
Haben Sie viele ostdeutsche Freunde?
Ich habe überhaupt nicht so viele Freunde, weil ich sehr viel arbeite. Meine freie Zeit verbringe ich mit Familie und Nachbarn in München. Darüber hinaus habe ich einige Kollegen, denen ich freundschaftlich verbunden bin, aber Freundschaft – das ist etwas anderes. Ich muss Ihnen aber auch ganz ehrlich sagen, dass ich über die Herkunft von Menschen, denen ich begegne, nicht so viel nachdenke, weil das doch überhaupt keine Rolle spielt. Wir leben schließlich in einem Land.
Wirklich? Leben wir nicht 20 Jahre nach der Wende immer noch aneinander vorbei?
Nein, ich finde, Ost und West leben sehr wohl in einem Land – viel mehr als viele Menschen in der alten Bundesrepublik zum Beispiel. Wenn ich an Karl-Heinz Kurras denke, der Benno Ohnesorg erschossen hat und bei der Stasi gewesen sein soll – also damals haben zwei Generationen offensichtlich nicht im selben Land gelebt oder haben dieses Land zumindest fundamental verschieden empfunden. Ost und West verständigen sich heute doch wenigstens über dieses Land, es wird miteinander diskutiert. Man streitet sich gemeinsam über die Grundausrichtung des eigenen Landes. Das ist doch konstruktiv. Früher meine ich zum Beispiel bei Schauspielern auf der Bühne immer genau gesehen zu haben, ob er oder sie aus dem Westen oder aus dem Osten kommt. Ostdeutsche Kollegen haben immer mit einem hohen Bewusstsein für ihre Figur gespielt, westdeutsche waren vielleicht technisch nicht überaus virtuos, haben sich aber die Seele aus dem Leib gespielt. Nach der Wende haben beide Seiten viel voneinander gelernt. Auch deswegen ist die Generation der jungen Schauspieler, die heute von den Schulen kommen, so unglaublich gut ausbildet und einsatzbereit. So jemand wie Ludwig Trepte, der in „Im nächsten Leben“ nur eine winzige Rolle spielt, macht das wie ein junger Robert de Niro. Der hat mich sehr beeindruckt – sowohl technisch als auch durch seinen Einsatz.
Was können junge Schauspieler heute besser als Sie früher?
Junge Schauspieler heute haben weniger Überbauprobleme, halten sich nicht so lange mit theoretischen Vorüberlegungen auf, sondern spielen einfach.
Edgar Selge
Was bedeutet Ihnen als 68er die Kurras-Enthüllung?
Ich denke immer an eine gewisse Ähnlichkeit zwischen DDR und BRD in Kurras’ Generation: Die hatte eine unglaubliche Sehnsucht nach Autorität, eine große Angst vor Freiheit, vor Zügellosigkeit. Ich kenne viele Leute dieser Altersgruppe, die angesichts der Studentenproteste bis in die 70er-Jahre hinein gesagt haben, dass man uns 68er in Arbeitslager schicken oder noch besser an die Wand stellen sollte. Solche Schrecklichkeiten haben Väter über ihre eigenen Söhne gesagt! Das sind Reflexe einer Generation, die sich mit ihrer eigenen Kriegsbiografie, ihren Ängsten nicht auseinandergesetzt hat und sich stattdessen zu einer Härte sich selbst gegenüber gezwungen hat, die überhaupt nicht dem entspricht, was sie erlitten haben. Das führt dann dazu, dass man der nächsten Generation ihre Freiheit, ihre Lebenslust nicht gönnen kann und der Neid in Hass umschlägt.
Wie weit weg ist 1968 für Sie?
Wenn ich jetzt die Artikel über Kurras lese, merke ich, dass das gar nicht weit weg ist – auch wenn 68 in meinem Berufsleben zum Beispiel kaum eine Rolle spielt, auch weil ich viel und gern mit jüngeren Leuten zusammenarbeite. Und trotzdem bin ich von 68 traumatisiert – von der Unversöhnlichkeit, mit der damals zwei Generationen aufeinander losgegangen sind. Diesen blinden Hass habe ich bis tief in meine Familie hinein gespürt. Das war für mich als Familienmensch mit einem großen Liebesbedürfnis schrecklich.
Konnten Sie den Konflikt mit Ihren Eltern noch auflösen?
Ich war in meiner eigenen Familie eher Zeuge dieses Konflikts zwischen meinen älteren Brüdern und meinen Eltern – fühlender Zeuge.
Sie selbst haben sich also zurückgehalten?
Wenn Sie als 14-Jähriger erleben, wie Menschen, die sie lieben und versöhnt sehen möchten, sich entzweien, möchten Sie das nicht wiederholen, wenn Sie selbst 20 sind.
Auf welcher Seite standen Sie?
Ich wollte auf gar keiner Seite stehen. Denn ich war damals und bin heute noch mehr überzeugt, dass die Auseinandersetzungen 68 falsch geführt wurden.
■ Der Film: Wolfgang Kerber, früher Cheffotograf der DDR-Nachrichtenagentur ADN, arbeitet seit der Wende als Polizeireporter für eine Berliner Boulevardzeitung – ein Verdrängungskünstler, der mit seinem alten Mercedes kreuz und quer durch die neuen Bundesländer fährt und seine Vergangenheit als Honeckers Leibfotograf unter Verschluss hält, genau wie die Fotos, die damals entstanden. Erst durch die Konfrontation mit seiner Tochter, in deren Wohnort Kerber eine Vermisstenmeldung führt, bekommt dessen Fassade Risse. Allmählich lässt er die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit zu. Seit Donnerstag im Kino.
Warum?
Weil sie vielleicht zu politischem Fortschritt geführt haben und zu einem Gewinn für unsere Demokratie, aber nicht unbedingt zu menschlichem Erkenntnisgewinn. Stattdessen ist ein Schubladendenken entstanden: Die Kinder steckten ihre Eltern in Schubladen und die Eltern ihre Kinder. Das ist doch furchtbar! Keiner von uns gehört in eine Schublade. Jetzt, wo es zu spät ist, ihre Eltern tot sind, entwickeln die 68er eine Sehnsucht, sich mit ihren Vätern noch mal zu unterhalten. Dafür ist es aber zu spät, das macht mich traurig.
Spüren Sie diese Sehnsucht auch bei sich selbst?
Ja, aber eher allgemein menschlich, nicht aus dem Gefühl heraus, mit meinen Eltern zu brutal ins Gericht gegangen zu sein.
Welchen Anteil hatte 68 an Ihrer Berufswahl?
Keinen großen. Ich habe instinktiv den Beruf gesucht, der mich zu meinen Gefühlen bringt, und die finde ich eben nicht in dem, was ich sage, sondern in der Konfrontation mit Texten. So kompliziert kann ein Mensch sein, dass er den Selbstbezug erst im Spiel mit fremdem Text hinbekommt, erst darüber zum Denken und Fühlen kommt.