: „Ich bin noch immer im Gefängnis“
Matthias Melster
Hier hatte er nur eine Nummer: „312 die II“, das war der Häftling Matthias Melster. Der Berliner war 20 Jahre alt, als seine Flucht aus der DDR im Stasi-Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen endete. Das war 1987. Trotz ständiger Verhöre, Schlafentzug und dem Gefühl totaler Ohnmacht kehrt der heute 41-Jährige seit zehn Jahren regelmäßig an den Ort seiner Haft zurück: als Zeitzeuge. Für ihn sind die Gespräche mit den Besuchern eine Art Psychotherapie. Hingegen hält der Berliner nicht viel von der sogenannten Opferrente für SED-Verfolgte, die der Bundestag übermorgen verabschiedet. Weil potenzielle Empfänger ihre Bedürftigkeit beweisen müssten, würden sie wieder in eine alte, verhasste Rolle gezwängt: in die des Opfers.
VON NANA GERRITZEN UND MATTHIAS LOHRE
taz: Herr Melster, auf Ihrem Oberarm haben Sie einen Stacheldraht tätowiert. Haben Sie nicht genug von Gefängnis und Zäunen?
Matthias Melster: Klar. Aber sie bestimmen immer noch mein Leben.
Inwiefern?
Ich leide immer noch unter Angstzuständen, Albträumen und Schlaflosigkeit. Ich gehe bis heute zur Therapie, und ich muss immer noch Antidepressiva schlucken. Je nach Tagesform geht es mir immer mal wieder ein bisschen besser. Wenn ich Stress habe, geht es mir aber wieder schlechter.
Wird Ihnen die Opferrente für Verfolgte des DDR-Regimes helfen? Am Mittwoch wird sie im Bundestag verabschiedet.
Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. 250 Euro im Monat für ein kaputtes Leben, das ist eigentlich nicht angemessen. Zumal diese kleine symbolische Aufmerksamkeit ja eingeschränkt werden soll. Nur wer unter 1.000 Euro im Monat verdient, soll die Entschädigung bekommen. Aus Sicht der Politiker mag das ja plausibel erscheinen. Warum soll man Leuten, die sich berappelt haben, Geld geben?
Aber?
Die Bedürftigkeitsregelung zwingt uns zurück in die Opferrolle. Viele ehemalige DDR-Häftlinge neigen ohnehin dazu, sich zurückzuziehen. Nur wenn ich weniger arbeite und weniger verdiene, werde ich für meine Verfolgung entschädigt. Gewissermaßen werde ich dafür belohnt, wenn ich mich aus dem normalen Leben zurückziehe. Aus dieser Falle müssen wir raus.
Haben Sie die Hoffnung, dass es weitere Gesetzesentwürfe geben wird?
Ich glaube nicht. Den Politikern ist die ganze Sache lästig. Die wollen ihre Ruhe haben, deshalb gibt es jetzt auch diesen Kompromiss. Wenn die Opferrente durch ist, wird das Thema gegessen sein.
Wie kam es eigentlich zu Ihrem Plan, aus der DDR zu fliehen?
Das war eine lange Entwicklung. Schon in der Grundschule, als die Pionierveranstaltungen losgingen, merkte ich: Irgendwas passt mir nicht. Natürlich war das sehr lange nur ein Bauchgefühl. Als ich mit 13 Jahren in eine junge Kirchengemeinde eintrat, kam ich zum ersten Mal mit der Oppositionsszene in Berührung. Da wurde mir vieles klar.
Nämlich?
Dass es in der DDR vorgegebene Meinungen gab, die alle vertraten, um keinen Ärger zu bekommen. Ein Jahr nachdem ich eingetreten war, reiste der Pfarrer meiner Gemeinde in den Westen aus. Er ging, weil er nicht mehr damit zurechtkam, Jugendlichen demokratische und christliche Werte zu vermitteln und zu wissen, dass wir Schwierigkeiten bekommen würden, wenn wir diese Werte umzusetzen wollten.
Haben Sie dadurch auch über eine Ausreise nachgedacht?
Nein. Ich war ja erst 14. Außerdem sah ich Ausreise als eine Art, aufzugeben. Wie die meisten meiner Freunde wollte ich dableiben und das System ändern.
Wann änderten Sie Ihre Meinung?
Irgendwann hatte ich einfach zu viel Ärger. Ich wurde vom Abitur ausgeschlossen, weil ich meine Meinung in der Schule vertrat. Ich hatte einen Aufnäher auf der Jacke, darauf stand „Schwerter zu Pflugscharen“. Während meiner Ausbildung zum Zahntechniker wäre ich fast rausgeflogen, weil ich die Teilnahme am Sportschießen verweigerte. Auch bei der Arbeit versuchte man ständig, mich zu ärgern und zu schikanieren. Nach drei abgelehnten Ausreiseanträgen hatten meine beste Freundin Susanne und ich dann die Idee: Wir hauen ab.
Erzählten Sie Ihren Eltern von Ihren Fluchtplänen?
Nein, das ging nicht. Schon, um sie zu schützen. Außer Susanne und mir wussten nur deren Schwester und meine damalige Freundin Suse Bescheid. Die sagte aber gleich, dass ein Fluchtversuch für sie nicht infrage käme.
Zweifelten Sie da nicht an Ihrem Fluchtplan?
Eigentlich nicht. Als ich beschlossen hatte, das Land zu verlassen, und sie sagte, dass sie nicht mitwill, war die Beziehung mehr oder weniger beendet. Wir sprachen das nicht aus, aber es gab keine Perspektive mehr. Im Kopf war ich schon weg.
Wie lief dann die Flucht ab?
Wir fuhren mit dem Zug in die Tschechoslowakei, dort per Anhalter so dicht wie möglich an die Grenze und schlichen nachts zu Fuß bis zum Zaun.
Woher wussten Sie, was Sie tun mussten?
Als Berliner hatten wir eine relativ konkrete Vorstellung, wie so eine Grenze aussieht. Allerdings lagen zwischen der Ostberliner Hinterlandmauer und dem Westberliner Territorium teilweise nur hundert Meter. In der Tschechoslawakei waren das drei oder vier Kilometer – das wussten wir nicht. Im Endeffekt sind wir ziemlich blauäugig losmarschiert. Wir hatten zwar Lederhandschuhe und Decken, um möglichst unversehrt über den Zaun zu kommen, aber ansonsten hatten wir null Ahnung. Wir sind einfach rüber und dann mit dem Kompass Richtung Westen geradeaus. Und irgendwann kamen die Hunde.
Und dann?
Da brach eine Welt zusammen. Über die Möglichkeit, verhaftet zu werden, hatten wir vorher nie gesprochen, das hatten wir völlig ausgeblendet. Als der Hund an Susanne dranhing und der Grenzsoldat mir Handschellen anlegte, war alles aus.
Sie waren anschließend fünf Mo nate lang im Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen. Woran denken Sie als Erstes, wenn Sie sich daran erinnern?
An das Gefühl von Ausgeliefertsein. Tag und Nacht, zu jeder Minute, konnte die Tür aufgehen und ich konnte zum Verhör gebracht werden. Als ich hier ankam, musste ich meine Identität abgeben. Fünf Monate lang wurde ich nur mit „312 die II“ angesprochen. Die 312 war meine Zellennummer, die II stand für meine Pritsche. Die ganze Zeit war ich völlig allein. Ich hatte nicht mal Blickkontakt mit anderen Gefangenen. Es gab keinerlei Ablenkung: keine Bücher, keine Zeitung, kein Radio, kein Fernseher, kein Blatt Papier, kein Stift, einfach gar nichts.
Was machten Sie den ganzen Tag?
Täglich gab es Verhöre, über Stunden. Nachts war an Schlaf kaum zu denken. Wir mussten auf dem Rücken liegend mit auf dem Oberkörper verschränkten Armen schlafen. Weil das ohne Kontrolle niemand durchhält, wurden wir die ganze Nacht kontrolliert, alle fünf Minuten ging das Licht in der Zelle an. Als ich irgendwann trotz Lichtorgel einschlafen konnte, wurde ich bei jeder falschen Bewegung mit mörderischem Krach geweckt. Und das sieben- bis achtmal pro Nacht.
Wie ging es nach Hohenschönhausen weiter?
Eigentlich war Hohenschönhausen ja nur U-Haft. Ich wurde danach wegen „ungesetzlichem Grenzübertritt“ zu einem Jahr und zehn Monaten verurteilt und saß im Gefängnis Karl-Marx-Stadt. Im Dezember 1987 wurde ich von der BRD freigekauft, im Februar 1988 durfte ich ausreisen.
Haben Sie Susanne vor der Ausreise noch mal getroffen?
Direkt nach der Haft sahen wir uns ein paar Mal. Wir redeten aber nur sehr oberflächlich. Als wir unsere Ausreisepapiere bekamen, ging ich nach Dortmund und sie nach Westberlin. Das war’s.
Das war’s?
Ihre Einstellung war: Es ist vorbei, es ist vergessen, es war nicht so schlimm.
Nicht so schlimm?
Ja, das war wohl ein Versuch, mit dem Erlebten umzugehen. Nach der Devise: Was man überlebt hat, kann nicht so schlimm gewesen sein.
Und ihre Exfreundin Suse?
Die habe ich erst nach der Wende wiedergesehen, als ich nach Berlin zurückkam. Wir haben uns auch ein paar Mal unterhalten, aber nie über diese Zeit gesprochen. Sie wollte nicht.
Wie kamen Sie dann dazu, in „ihr“ Gefängnis zurückzukehren?
Ich bin 1996 als Besucher dort reingeraten. Die anderen Gäste merkten schnell, dass ich das Gebäude kenne, dass ich ehemaliger Gefangener bin. Die Mitarbeiterin, die die Führung leitete, erzählte mir vom Plan, eine Gedenkstätte mit Zeitzeugen-Führungen zu etablieren und gefragt, ob ich bei einem solche Projekt mitmachen würde.
Und?
Ich habe natürlich nein gesagt. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, öfter in das Gefängnis zu kommen und immer wieder die schlimmsten Geschichten aus meinem Leben zu erzählen.
Inzwischen arbeiten Sie seit mehr als zehn Jahren hier.
Man hat damals auf mich eingeredet, bis ich irgendwann eingewilligt habe, es zu probieren – allerdings mit der Option, aufzuhören, wenn ich nicht damit klarkomme.
Offensichtlich kommen Sie klar.
Ja, ich habe ziemlich schnell festgestellt, dass ich das schaffe und es mich sogar ein Stück voranbringt. Das bedeutet mir viel. Mein Politikstudium an der Freien Universität musste ich 2004 abbrechen, ich stand damals unter enormem Druck: Mein Vater, meine wichtigste Bezugsperson, war gestorben. Es ist eigentlich fast eine Therapie, hier zu arbeiten.
Was ist aus Suse und Susanne geworden?
Suse hat sich ins Familienleben gestürzt, Susanne lebt und arbeitet immer noch in Westberlin. Bei den Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm über unsere Geschichte habe ich die beiden 2003 wiedergesehen.
Haben Sie sich durch die Dreharbeiten wieder angenähert?
Das war sicherlich unsere Hoffnung, aber es hat sich ja nichts geändert. Susanne hat auch beim Dreh wieder signalisiert, dass sie nicht über die Vergangenheit reden möchte.
Der Film über ihre Geschichte ist 2005 unter dem Titel „Der irrationale Rest“ erschienen. Was bedeutet dieser Titel für Sie?
Wenn man so was erlebt hat wie wir drei, hinterlässt das tiefe Spuren, die das ganze weitere Leben bestimmen. Es ist etwas geblieben, das keiner von uns formulieren kann. Dieser Rest verbindet uns und trennt uns gleichzeitig voneinander.
Bestimmt dieser Rest auch Sie? Oder sind Sie heute frei?
Ich bin nicht mehr so drangsaliert wie zu DDR-Zeiten. Aber es gibt immer noch Zwänge in meinem Leben. Einer ist, immer wieder mit dieser ganzen Geschichte zu tun zu haben. Irgendwie muss ich immer wieder darüber reden, immer wieder hierherkommen. Irgendwie bin ich immer noch drin, im Gefängnis.