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Archiv-Artikel

„Ich bin der Martin“

CURLING Favorit Kanada steht im Halbfinale. Skip Kevin Martin wird derweil mit den Allergrößten verglichen

Bei Kevin Martin sieht man auf den ersten Blick, dass dieser Mann mit der eiskalten Empathie in sich ruht

AUS VANCOUVER MARKUS VÖLKER

Kevin Martin hatte es noch nicht gehört. Die Globe and Mail zitierte in ihrer jüngsten Ausgabe den US-Curler John Schuster, und der hat gesagt, Martin sei der Michael Jordan des Curlings. „Liest diese Zeitung denn überhaupt jemand?“, fragte Martin in der Nacht zu Mittwoch keck in die Runde und lachte. Der Reporter vom Globe lächelte gequält zurück. Der Vergleich sei ja ganz schmeichelhaft, sagte Martin, aber übertrieben.

Martins Mannschaftskollege John Morris schlug daraufhin vor, ihn den „Jack Nicklaus des Curlings“ zu nennen, aber auch den Vergleich mit dem berühmten Golfprofi scheute der 43-Jährige. „Diese Jungs spielen doch in einer anderen Liga“, sagte er nach dem Spiel gegen die Chinesen, „ich bin einfach nur Kevin Martin und ich liebe dieses Spiel. Reicht euch das nicht?“ Ganz so einfach ist es nun auch wieder nicht. In Deutschland mag ihn kaum einer kennen, aber in Kanada ist er eine große Nummer. Der Mann mit der Halbglatze ist so bekannt wie hierzulande Michael Greis und Anni Friesinger zusammen. Kevin Martin ist das „Gesicht des Curlings“.

Die Asiaten wurden in der Nacht zu Mittwoch förmlich vom Eis gefegt. Das Spiel im Vancouver Olympic Centre endete vorzeitig beim Stand von 10:3. In zwei Ends – ein Spiel besteht in der Regel aus zehn Ends – schafften die Kanadier einen 4:0-Durchmarsch. Das ist fast schon die Höchststrafe in diesem Sport. Der große Turnierfavorit hat die Vorrunde des olympischen Curlingturniers mit 9:0-Siegen beendet. Das hat es zuvor noch nie gegeben.

„Aber dieser Rekord bringt uns nichts, wenn wir das kommende Spiel verlieren“, warnte Morris. Am Donnerstag 23 Uhr deutscher Zeit beginnen die Halbfinalspiele. Es geht um alles oder nichts. Wer gewinnt, spielt um Gold. Wer verliert, nur um Bronze. Norwegen tritt gegen die Schweiz an. Gegen wen die Kanadier um Skip Martin spielen, steht noch nicht fest. Weil Schweden und Großbritannien gleichauf auf Platz vier liegen, müssen sie noch ein Entscheidungsspiel austragen.

Martin ist nicht ganz glücklich mit dem Modus. In Kanada wird oftmals nach dem „Paper System“ gespielt, wie Martin erklärte. Dabei scheidet der Vorrundenbeste nicht nach einer Niederlage im Halbfinale aus, sondern bekommt noch eine zweite Chance auf den Finaleinzug. Auch Weltmeisterschaften werden auf diese Weise ausgespielt. „Angst habe ich nicht, dafür haben wir hier zu gut gespielt, aber ein bisschen heikel wird’s werden“, sagte Martin. John Morris macht sich noch weniger Sorgen. „Kevin is sharp“, sagte er, was sich vielleicht so übersetzen lässt, dass sein Chef einen Lauf hat. „Wir sind sehr zuversichtlich, was die kommenden Spiele angeht“, verlautbarte Morris schließlich. Zwei Matches sollen es schon noch sein, denn einerseits will Curling-Kanada die Goldmedaille am Hals von Martin und Co. baumeln sehen, andererseits will Martin seinen Patzer vom olympischen Finale in Salt Lake City wiedergutmachen, als er einen Sieg der Norweger zuließ.

Die Norweger spielen an diesem Tag zwei Bahnen weiter. Sie tragen lustige Karohosen, die vom Hersteller kommen, der auch Golfprofi John Daly ausstaffiert. Die 5.400 Zuschauer haben aber fast nur Augen für ihr Team. Kevin Martin steht im Mittelpunkt. Der gleitet zum Aufwärmen in tiefer Hocke über das riffelige, noppige Eis und schiebt dann den fast 20 Kilo schweren Stein aus schottischem Granit gut 30 Meter in die Endzone, wo er, nachdem er eine Parabel beschrieben hat, im Zentrum liegen bleibt. Man jubelt. Kuhglocken läuten. Die Fans haben ihren Spaß. Man kann schon verstehen, warum sie diesen Sport mögen.

In gewisser Weise ist es ein koenästhetisches Vergnügen, dem Gleiten der großen Handschmeichler mit Henkel zuzusehen, ihr Ploppen zu hören, wenn sie aufeinander rauschen. Das lautlose Rutschen, die Drift der Steine, die Präzision des Impulses sind die Ingredienzien einer faszinierenden Sportart. In Deutschland wird freilich immer noch spöttisch über die Putztrupps auf dem Eis geschrieben, über die Besenkommandos, die schrubben wie die Wilden. Doch derlei plumpe Kritik konterkariert die Schönheit dieses kontemplativen Sports.

Es ist kein Zufall, dass es etliche Rentnerpaare an diesem Tag ins Curling-Stadion verschlagen hat. Die älteren Herrschaften tragen zum Teil wie Eishockeyfans das Trikot ihres Lieblingsstars, nur dass Kevin Martin draufsteht, der Name des King of Curling, und nicht Sidney Crosby. Passend zum scheinbar unspektakulärsten Sport dieser Spiele steht die Halle in einem recht idyllischen Stadtteil Vancouvers. Die Rasenflächen vor den Einfamilienhäuschen sind gepflegt. Die Kirschbäume blühen.

Der Mittelstand hat sich hier eingerichtet, wie auch in der Halle. Es sind zwar auch viele Eishockeytrikots im weiten Rund zu sehen, und die Rutschpartien werden wie beschrieben nicht andächtig zur Kenntnis genommen, dennoch geht es recht gesittet zu beim Steine-Halma. Der deutschen Curlerin Andrea Schöpp war es trotzdem noch zu laut, sie beschwerte sich vehement über das ihrer Meinung nach unfaire Verhalten des Publikums. Keiner hat das ernst genommen, denn Skip Schöpp ist in der Szene eh als Meckerziege verschrien.

Kevin Martin hat einen gänzlich anderen Ruf. Und man sieht auf den ersten Blick, dass dieser Mann mit der eiskalten Empathie in sich ruht. Oft steht er einfach nur am Rand der Bahn, auf seinen Besen gestützt, und schaut dem Treiben zu, ganz so, als ob er die Nachbarskinder über den Gartenzaun seines Hauses in Edmonton beobachten würde.

Er ist nach den vielen Jahren, die er gecurlt hat, finanziell unabhängig. Außerdem betreibt er seit 1991 ein Geschäft für Curling- und Sportzubehör. Über den Laden hat er auch seinen jetzigen Mannschaftskollegen Marc Kennedy kennen gelernt. „Jetzt geht es um alles“, sagte Kennedy. Das hätte der Jack Niklaus des Curlings nicht besser sagen können.