: Ibrahim Böhme for president?
■ Ibrahim Böhme unbestritten erster Mann der SPD / Reicht seine Kraft auch für den Regierungs-Chef? / Große West-Schwester greift hilfreich unter die Arme - Brandt und Lafontaine gaben sich die Ehre
Der für vier Tage anberaumte 1. Parteitag der Sozialdemokraten in der DDR endete relativ unspektakulär. Die Szenerie wurde von der großen Schwester aus der BRD geprägt, die Delegierten hatten keine Wahl: Ibrahim Böhme war der einzige Kandidat, und er wurde mit einer 92 Prozent-Mehrheit auch gewählt. In der Personaldiskussion wurde dies als Verlust von Demokratie gewertet und vorsichtig bezweifelt, daß die Kraft des SPD-Spitzenmannes auch für das Amt des Ministerpräsidenten der DDR nach dem 18. März ausreicht. Zu schnell war der Übergang des Ibrahim Boehme vom „alternativen Marxisten“ zum Vertreter sozialdemokratischer Parteiraison. Aber einen Sinn für Organisation und Karriere hatte Boehme schon in seiner „ersten Soziliation“ vor dem Austritt aus der SED.
Auf den Straßen und Plätzen Leipzigs zeigt sich die SPD selbstbewußt mit Fahnen, Aufklebern und Sprüchen: „Die Zukunft hat wieder einen Namen - Ja zur deutschen Einheit eine Chance für Europa.“ Der für vier Tage anberaumte 1. Parteitag der Sozialdemokraten in der DDR endete relativ unspektakulär, die Entscheidung war gefallen, noch bevor die 526 DelegiertInnen in einem Pavillon im idyllisch gelegenen Austellungszentrum der AGRA vor den Toren der Heldenstadt vom Oktober und November vergangenen Jahres zu Stuhle kamen. Ibrahim Böhme hatte auf der Sitzung des Gründungsvorstandes das Votum für den Parteivorsitz und die Spitzenkandidatur der SPD zu den Volkskammerwahlen am 18. März erhalten. Sein Kontrahent Markus Meckel konnte lediglich drei der 24 Vorstands-Stimmen auf sich vereinen.
Am Tagungsort herrschte eine gelassene Harmonie, die durch nichts gestört werden wollte. Die Delegierten wählten, wie ihr Vorstand beschlossen hatte: Böhme erhielt nur 27 Gegenstimmen, 13 enthielten sich, für ihn waren 438 delegierte oder 92 Prozent der Stimmen. Nach seiner Wahl äußerte er zufrieden, die SPD werde aus den Volkskammerwahlen als stärkste Partei hervorgehen.
Das Outfit des Parteitages bestimmte wesentlich die allgegenwärtig große Schwesternpartei aus dem Westen. Mit Informationsmaterial der Friedrich-Ebert-Stiftung bis hin zu Clausthaler Büchsenbier, Wegweisern, Computern und Druckern griff die SPD-West der erst vier Monate jungen SPD im Osten auch mit der Präsenz ihrer Spitzenpolitiker unter die Arme. Oskar Lafontaine dämpfte allerdings in seinem Grußwort die Hoffnung, die Währungsunion könne schon bald - Böhme will sie zum 1. Juli 1990 - vollzogen werden. Dieser Schritt, so Lafontaine auch an die Adresse drängender West-SPD'ler, verlange „sorgfältige Vorbereitung“. Die finanziellen Hilfen der BRD für Übersiedler kritisierte Lafontaine als „Prämien für das Weggehen“.
„Jetzt kommen
die Probleme“
Der Vorsitzende des DGB, Ernst Breit, meldete neben Glückwünschen auch Fragezeichen an: Macht es Sinn, eine parlamentarische Demokratie anzustreben und gleichzeitig den Gewerkschaften „das Recht auf Gesetzesinitiative“ einzuräumen? Wie ist es mit der Gewaltenteilung im Staat, welche Rolle können und dürfen Gewerkschaften spielen?
Diverse Persönlichkeiten der Sozialistischen Internationale gaben sich die Ehre oder zollten in Grußadressen dem Parteitag Tribut. Der Schriftsteller Günter Grass war da. Willy Brandt ließ sich am Sonntag zu seinem Ehrenvorsitzenden.
In den Reden dominierte das Attribut sozial: Marktwirtschaft, Sicherheit, Abfangsystem, Gleichheit, Gerechtigkeit. „Die Einheit ist gegessen“, so ein Delegierter am Rande, „jetzt kommen die Probleme.“
Die Debatten über Satzung und Grundsatzprogramm und andere formale Fragen schleppten sich, obwohl die Tagungsleitung die Tagesordnung ad hoc veränderte, um die Prozedur „aufzulockern und aufzusteppen“. Dennoch lichteten sich die Reihen im Plenarsaal und selbst im Vorstand, man tummelte sich am kalten Buffet, aber das sei normal, versicherte der taz ein Gesprächspartner am Rande. Die Prominenz ließ sich porträtieren, man plauschte, schüttelte Hände.
Käte Woltemuth verglich die Atmosphäre mit der einer Volkssolidaritäts-Sitzung, selbst bei den Grauen Panthern gehe es lebhafter zu. Sie forderte die SozialdemokratInnen auf, etwas zu tun: Auf dem Lande fahren ganze Kolonnen von großen Autos vor. Aus ihnen steigen ehemalige Großgrundbesitzer, angezogen, als ob sie zur Großwildjagd gehen, schreiten sie demonstrativ ihre früheren Flächen ab und besuchen die Dörfer. Sie ängstigen die Menschen, und diese Angst müsse den Menschen genommen werden. Die von Käte Woltemuth von der SED im Januar eingeforderte Hand habe die SPD zurückbekommen. Beide Hände seien frei, es sollte gehandelt werden, sagte die Ehrenvorsitzende des Vorstandes.
Die geforderte Absicherung gegen Arbeitslosigkeit blieb in Böhmes 11-Punkte-Katalog ebenso vage, wie Maßnahmen zur Verhinderung von Spekulation mit Grund und Boden. Immerhin erklärte Böhme, die Ergebnisse der Bodenreform von 1945 auch bei einer zukünftigen Vereinigung für unantastbar.
Reicht Böhmes Kraft?
Sorgen wurden bei der Personaldiskussion um den neuen Parteivorsitzenden geäußert. Helga Hirsch mahnte vorsichtig an, ob denn die Kraft Böhmes ausreiche, beide Posten, Ministerpräsident und Parteichef, auszufüllen. Als Verlust von Demokratie wertete Annemarie Müller den Fakt, daß nur ein einziger Kandidat für den SPD-Vorsitzenden benannt worden ist. Die beantragte und stattgegebene Möglichkeit für alternative Vorschläge verlief ergebnislos. Ibrahim Böhme blieb der einzige Kandidat.
Für innerparteilichen Dissens sorgten wieder Anträge zur Quotierung von ehemaligen SED'ler in der neuen Partei sowie zum demokratisch-sozialistischen Selbstverständnis. Wohl um die lästige Sozialismusdebatte zu verhindern, ging die Antragskomission auf den Kompromiß ein und strich gleich zu Beginn den Begriff „demokratischer Sozialismus“ aus dem Statut. „Die SPD steht in der Gemeinschaft der in der Sozialistischen Internationale vereinigten Parteien“, heißt es jetzt.
Andre Beck
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