IT-GIMMICKS (3): Digitales Surfbrett
Gelesen wird noch. Nur nicht mehr im Buch. Mit Schriftbildschirmen halten E-Reader Einzug in die Schulen. Teil 3 der Reihe: Endgeräte des digitalen Klassenzimmers.
Nicht erst seit dem Vorstoß der Marke mit dem Apfel steht das digitale Klassenzimmer auf der Tagesordnung. Wir haben den Web-2.0-Pionier und Berater Martin Lindner gebeten, seine Vision der wichtigsten Endgeräte für das Klassenzimmer aufzuschreiben: Tablet, E-Reader, Smartphone und intelligenten Stift.
1. Was ist ein Buch? Als reine Lesetechnologie betrachtet: eine Seite, die man in der Hand hält. Ein heller Schriftbildschirm aus Papier, auf einen Blick überschaubar, der einen typografisch gestalteten Textblock zeigt. Und mit einer schnellen Handbewegung („blättern“) ruft man dann immer neuen Text auf. Die hundert, zweihundert Seiten, die gebündelt noch dranhängen, sind der Speicher.
Ein E-Reader ist demnach ein Lesegerät für längere, geschlossene Texte, das die alte Buchtechnologie (bzw. auch „textlastige Zeitschriften“) ersetzt. Eine Seite, die man in der Hand hält, und gespeicherter Text. Sonst nichts.
Man kann damit keine Fotos machen, nicht telefonieren, nicht mal schnell die Mails checken, nicht sehen, was auf Facebook passiert. Hier geht es um virtuellen Drucktext: um abstrakte dunkle Zeichen auf hellem Grund und um die stille Gedankenstimme. Die einzigen sinnvollen Interaktionen sind hier „anstreichen“ und „Randnotizen machen“, mitunter auch „herausschneiden“ oder „kopieren“.
50, Autor der Reihe IT-Gimmicks, ist Literaturwissenschaftler und einer der deutschen Web-2.0-Pioniere.
Er organisierte die ersten Konferenzen für Mikrolernen. Motto: Wissen, das nicht im Umlauf ist, ist schon vergessen. Heute berät er Unternehmen im Umgang mit flüssigen Dokumenten. Seine Seite: www.wissmuth.de
2. Braucht man das in der Schule? Schwierige Frage. Bisher eigentlich nicht, denn in unseren Schulen wird in Wahrheit das Lesen von Texten mit einem längeren Argumentationsbogen bisher gar nicht gelernt. „Schulbücher“ sind ja eher so etwas wie lose zusammengeheftete Arbeitsblätter und Textschnipsel. (Die „Schullektüre“ ist nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt.) Buchlesen war in den letzten 150 Jahren bürgerliches Herrschaftswissen, das man sich zu Hause aneignete. Dazu kamen aus anderen Schichten nur die wenigen Autodidakten, die mit einem Buchstaben-Gen geboren wurden.
Die E-Reader-Funktion der Tablets vom Typ iPad ist dafür nur bedingt geeignet. Man kann damit schon auch Buchtexte lesen, wenn man unbedingt will. Das ist dann die Entsprechung zu Magazinen oder Wegwerftaschenbüchern. Aber eigentlich ist das Tablet ein Surfbrett, um mitten hineinzuspringen ins bunte, vernetzte Medienmeer. Und die wenig augenschonende Hintergrundbeleuchtung des Tablet-Bildschirms sorgt ohnehin dafür, dass ablenkungsfrei-konzentrierte Lesephasen nicht zu lang dauern.
Bisher erschienen in der Reihe: Magische Spiegel fürs „Mitmachnetz“ und „Der Stift wird multimedial“.
In der nächsten Folge: Smartphone.
Die Russen dagegen statten ihre Schulen in den nächsten Jahren mit dem robusten E-Reader „Plastic Logic“ aus. Dieses Gerät ist eher ein biegsames Plastikstück ist als eine magische Wundertafel, wie es die Tablets sind. In meiner Zukunftsschule würde es so etwas auch geben: neben dem Tablet als Netzwerkzeug, neben dem Smartphone mit Kamera, neben dem digitalen Stift.
3. Aber stirbt nicht der pure, für sich stehende Langtext ohnehin aus? Wird er im Digitalen Zeitalter nicht ersetzt durch Video, Grafik und kurze, soziale Jetzt-und-sofort-Texte? Ja und nein. Es stimmt schon, das Internet ist zuerst einmal ein Universum aus Kurz- und Kürzesttexten. Das ist das Bindegewebe, das auch alle anderen Medienobjekte zusammenhält. Solche Kurztexte müssen alle künftig lesen, sich aneignen und auch schreiben können.
Trotzdem: Es zeichnet sich ab, dass Langtexte im Netz ein Comeback erleben werden. Nur konnte man die bis jetzt am Bildschirm eben nicht konzentriert lesen und bestenfalls überfliegen. Wohlgemerkt: Querlesen ist seit jeher eine zentrale Kulturtechnik, nicht zu verwechseln mit Oberflächlichkeit. Aber dennoch gab es eine Lesekrise: Wir Netzbewohner haben wirklich immer weniger längere Texte gelesen. Es gab einfach noch keine brauchbare Brücke zwischen digitaler und analoger Welt.
Mit den neuen Lesegeräten und Lese-Apps ändert sich das: Jetzt kann man einen längeren Blog-Eintrag mit einem Klick auf den E-Reader schicken. Und dort wirkt er als schwarz-weißer, ablenkungsfreier Drucktext ganz anders. Man wird also künftig wieder versunkene LeserInnen sehen: in den Bahnen, im Café, am Baggersee, die ersten Vorboten sehen wir ja schon.
Aber eines ist neu: Diese LeserInnen sind nicht mehr isoliert. Anders als auf dem Papier kann man künftig Texte „sozial lesen“: Alle markieren und annotieren gemeinsam im Internet, tauschen Zitate, teilen Kommentare. Ein bisschen so wie damals in den Briefnetzwerken der Aufklärung, als die bürgerliche Buchkultur noch viel frischer und lebendiger war. Vielleicht ist unser altes Europa ja doch noch fähig zu einem solchen Neuaufbruch.
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