IST GENUA 2001 DIE GEBURTSSTUNDE EINER NEUEN PROTESTGENERATION?: Rasanter Deutungswandel
So schnell kann es gehen: Vor einem halben Jahr diskutierte die taz die Frage, ob die heute 30-Jährigen, die „Generation Golf“ also, Repräsentanten der Posthistoire seien. Ob sie keine gemeinsamen zeitgeschichtlichen Erlebnisse mehr hätten und deshalb jeder mit seiner Geschichte allein stehe. Jetzt fragt sich die Zeit: „Genua 2001 – war das die Geburtsstunde einer neuen linksradikalen Bewegung?“ Und der Spiegel weiß bereits: „Eine neue, erstmals wirklich internationale Protestgeneration heizt Politikern und Konzernchefs ein – und zwar zu Recht.“ Ein Label gibt es für die überwiegend jungen Protestierenden auch schon: Die französische Tageszeitung Libération nennt sie „Generation soziale Gerechtigkeit“.
Angesichts des Tempos des Deutungswandels kann einem schon schwindlig werden. Denn bis in die jüngste Gegenwart hinein galt die Kritik an neoliberaler Wirtschaftstheorie, an den sozialen und politischen Folgen von Globalisierung, Flexibilisierung und Rationalisierung weithin als unerotisch, als altbacken links – als old school. Spannender schien es, die Öde und Bedeutungslosigkeit der eigenen Pubertät und bürgerlichen Existenz zu Pop und ein wenig Literatur zu erhöhen.
Was also ist passiert, dass der Neoliberalismus nach zehn langen Jahren nicht mehr als alternativlos gilt und sich heute selbst Sabine Christiansen, die Ikone des gedankenarmen Räsonierens, an den Aktivitäten und Forderungen der Globalisierungskritiker abarbeiten muss?
Genau betrachtet nicht viel. Mag die Intensität der Medienberichterstattung auch anderes nahe legen, es verbietet sich augenblicklich, von einer Bewegung der Globalisierungskritiker zu sprechen. Denn sie setzt sich in Deutschland nur aus wenigen – wenngleich auch bundesweit vernetzten – Einzelpersonen, entwicklungspolitischen Gruppen und Teilen der Gewerkschaften zusammen. Und eine linke antikapitalistische Debatte, die die Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit perspektivisch in ein politisches Projekt überführen könnte, gibt es nur in Ansätzen.
Diese offenkundigen Schwächen und Defizite sowie die vorherrschende Ideologie „Wir sind alle die Neue Mitte“ machten es den Medien in der Vergangenheit allzu einfach, gelegentlich aufflackernden antikapitalistischen Widerstand zu ignorieren. Es ist ja nicht so, dass vor den Gipfeltreffen in Göteborg und Genua in den bundesdeutschen Städten Totenstille geherrscht hätte. Seit Jahren gibt es Demonstrationen von radikalen Demokraten und Linken, Neopunks, Jungautonomen und Migranten, die sich gegen die Durchkapitalisierung der Innenstädte, strukurellen Rassismus und soziale Ausgrenzungen und Ungerechtigkeiten wenden. Nur die Rezeption ließ zu wünschen übrig: Diese neuen sozialen Bewegungen wurden anhaltend beschwiegen.
Diese gering ausgeprägte Sensibilität für gesellschaftliche Veränderungen hat Tradition: In den frühen Achtzigerjahren machte zum Beispiel der Stern eine angepasste und ruhige Jugend aus, die so ganz anderes eben als die renitenten 68er sei. Nur wenige Wochen später trat die Hausbesetzerbewegung, die bundesweit hunderte von Häusern zumindest vorübergehend der Spekulation entriss, den Gegenbeweis an.
Zehn Jahre später, Anfang der Neunzigerjahre, kam ein Berliner Stadtmagazin zu einem ähnlichen Befund. Kurz darauf lieferten sich Neonazigruppen, Cliquen von Einwandererjugendlichen und antifaschistischen Gruppen blutige Kämpfe um die Definitionsmacht auf den Berliner Straßen. Und wir alle haben noch die Lifestyle-Berichte über eine gierige Jugend vor Augen, die angeblich nichts Besseres im Sinne hat, als ihr Leben in Start-up-Unternehmen zu vergeuden und die New Economy zu beflügeln.
Ob Genua 2001 tatsächlich als Initialzündung taugt und die zahlreichen Gruppen, Grüppchen mit einem antikapitalistischen Unbehagen zu so etwas wie einer Bewegung einen kann, muss sich erst noch zeigen. Nur so viel ist sicher: Die wechselseitige Gewalterfahrung zwischen Protestierenden und Staatsmacht setzt Energien frei, die zumindest dazu führen, dass nun auch in der Gesellschaft und damit in den Medien wieder vermehrt die richtigen und die wichtigen Fragen gestellt werden – nach sozialer Gerechtigkeit, Verteilung gesellschaftlichen Reichtums, Legitimation staatlicher und wirtschaftlicher Macht. EBERHARD SEIDEL
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