IS-Prozess in Hamburg: Mutmaßliche Dschihadisten angeklagt
In Hamburg stehen sechs junge Männer vor Gericht, weil sie nach Syrien gereist sein sollen, um sich vom sogenannten Islamischen Staat (IS) ausbilden zu lassen
Der Islamische Staat erhält seit seiner Gründung 2013 Zulauf aus Deutschland, wenn auch 2015 und 2016 nicht mehr so stark. Ende 2016 lagen dem Bundesamt für Verfassungsschutz „Erkenntnisse zu mehr als 890 Personen vor, die in Richtung Syrien/Irak gereist sind, um dort auf Seiten des IS und anderer terroristischer Organisationen an Kampfhandlungen teilzunehmen oder diese Gruppierungen in sonstiger Weise zu unterstützen“.
Selbiges planten nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft auch die sechs jungen Männer aus Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen, die am 7. April dieses Jahres gemeinsam vom Hamburger Hauptbahnhof aus Richtung Türkei aufgebrochen sind. Der 17-Jährige wurde schon an der österreichisch- ungarischen Grenze aufgehalten, weil er mit fremden Papieren unterwegs war, die anderen an der bulgarisch-türkischen Grenze. Seit dem 20. April sitzen sie in Untersuchungshaft.
Vier der Angeklagten müssen sich nach Auskunft des Gerichts außerdem dafür rechtfertigen, dass sie im März 2017 gegen eine Ausweiskontrolle Widerstand leisteten. Dabei sollen Einzelne Polizisten angegriffen und beleidigt und den Versuch unternommen haben, Gefangene zu befreien.
Die Angeklagten hätten sich „ab Juli 2015 radikalisiert und sich der salafistisch-dschihadistischen Szene angeschlossen“, behauptet die Staatsanwaltschaft. Ab März 2016 hätten sie ihre Ausreise nach Syrien geplant. Anhaltspunkte für die Vorwürfe gebe es in den sozialen Netzwerken, sagte ein Gerichtssprecher. Auch existierten handschriftliche To-do-Listen. Vor der Reise hätten die Angeklagten ihre Bärte abrasiert und ihre salafistische Kleidung gegen westliches Outfit getauscht.
Der Dschihadismus sei ein Phänomen der Jugendkultur, bestätigt Andreas Zick von der Universität Bielefeld. „Der IS bietet ihnen ein Turboerwachsenwerden.“ 14-/15-Jährige können zum Löwen werden, wie sie das nennen, zum ernst zu nehmenden Kämpfer, wobei der Mudschaheddin das Rollenvorbild sei.
Zick hat zusammen mit KollegInnen von den Universitäten Bielefeld und Osnabrück den vier Monate währenden Whatsapp-Chat einer Gruppe ausgewertet, die im April 2016 einen Sprengstoffanschlag in Essen verübte. Bei dem Attentat auf eine Hochzeitsfeier in der Sikh-Gemeinde wurden drei Menschen verletzt, einer davon schwer. Die drei später verurteilten Haupttäter waren in Deutschland geborene Minderjährige.
Bei der Auswertung der Essener Whatsapp-Chats haben die Forscher einige Spezifika herausgearbeitet, die auch für andere derartige Gruppen gelten dürften: Es handelte sich um Teenager, die sich in typischer Weise von den Erwachsenen in Elternhaus, Schule und Moschee nicht verstanden fühlten. „Es gab überhaupt keine Kommunikation über das, was die Jugendlichen beschäftigt, mit den Eltern“, berichtet Zick.
Die Jugendlichen hätten sich nicht so sehr über eigene Diskriminierungserfahrungen ausgetauscht, sondern eher über die Wahrnehmung ihrer Eltern als Opfer, als Menschen, die nichts zu sagen hätten. Gleichwohl plage sie ein Gefühl der Minderwertigkeit, des zu den Verfolgten Gehörens. „Natürlich kriegen die Jugendlichen mit, wie man über sie redet“, sagt Zick.
Sobald solche Jugendlichen dann im Internet anfingen, etwa etwas zu Syrien zu posten, würden sie von Islamisten angesprochen. „Das funktioniert relativ schnell“, sagt Zick. „Der IS hat eine dramatisch gute Jugendarbeit gemacht.“
Hätten die Jugendlichen einmal an so eine Gruppe angedockt, wachse der Druck schnell, alle anderen Bindungen abzubrechen. Die Essener Gruppe habe sich eine Parallelwelt mit eigener Kleidung, eigener Musik und eigenen Predigten gebaut.
Besonders gefährlich an den oft autonom agierenden Gruppen sei, dass es in ihnen weniger um Ideologie gehe, sondern darum, etwas zu tun. „Die Radikalisierung beschleunigt sich, wenn man sich unter das Diktat der Tat stellt“, sagt Zick. „Von solchen Gruppen haben wir in Europa sehr viele.“
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