IRANS REFORMPRÄSIDENT CHATAMI STEHT VOR SCHWIERIGER ENTSCHEIDUNG: Moral contra Macht
Die Lage in Iran hat erneut ein kritisches Stadium erreicht. Der geistliche Führer der Islamischen Republik, Ajatollah Ali Chamenei, hat am vergangenen Sonntag die Debatte über eine Liberalisierung des Pressegesetzes kurzerhand von der Tagesordnung des Parlaments absetzen lassen. Die reformorientierten Abgeordneten hatten vermutlich mit harten Reaktionen der Antireformkräfte gegen die angestrebte Änderung des Pressegesetzes gerechnet, jedoch nicht mit einer direkten Einmischung des Revolutionsführers in das parlamentarische Geschehen. Jetzt aber hat dieser den Bogen zwischen Reformkräften und theokratischen Machtinhabern überspannt – mit unkalkulierbaren Risiken für beide Seiten.
Das noch gültige restriktive Pressegesetz wurde kurz vor Ende der letzten Legislaturperiode, sozusagen als Geschenk der konservativen Parlamentsmehrheit an den theokratischen Staatsapparat, verabschiedet, um die einflussreichen Medien der Reformbewegung auszuschalten. Auf seiner Grundlage wurden mittlerweile 22 Zeitungen und Magazine mit fadenscheinigen Begründungen verboten. Zuletzt fiel Bahar (Frühling) der Willkür der konservativen Justiz zum Opfer – am Dienstag, also zwei Tage nach dem „Putsch von oben“.
In der Islamischen Republik haben Parteien gegenwärtig keine Chance, den Volkswillen zu repräsentieren. Dies wird sich absehbar auch nicht ändern. Für die eigene politische Identität der Menschen in der iranischen Gesellschaft haben politische Programme nach wie vor eine deutlich geringere Bedeutung als die Glaubwürdigkeit von Führungspersönlichkeiten. Politische Auseinandersetzung und Meinungsbildung findet nicht durch Parteien, sondern über die Medien statt, denen damit die entscheidende Rolle bei der Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse und der Verankerung von demokratischen Spielregeln zukommt.
Ajatollah Chamenei als Repräsentant der theokratischen Machtelite glaubt, diesen Prozess repressiv aufhalten zu können. Er machte sogar von den verfassungsmäßigen Möglichkeiten der Zurückweisung eines zu erwartenden neuen Pressegesetzes etwa durch den Wächterrat keinen Gebrauch, suchte den Weg der offenen Konfrontation und entmündigte demonstrativ das von Reformern dominierte Parlament.
Damit aber steht Staatspräsident Chatami vor seiner schwierigsten Bewährungsprobe seit seinem überwältigenden Wahlsieg im Mai 1997. Chatami hat seitdem durch eisernes Schweigen und freundliches Lächeln, durch eine Politik des „Zwei Schritte vor ein Schritt zurück“ beharrlich versucht, den Reformprozess voranzubringen. Er zog dabei des öfteren den Zorn seiner ungeduldigen Anhänger und laizistischen Kritiker auf sich. Chatamis zähneknirschende Zurückhaltung anlässlich der organisierten Gewalteskalation durch die Schlägertrupps der Theokratie wurde als persönliche Schwäche und Unfähigkeit ausgelegt, völlig zu Unrecht. Jedesmal ging bisher die Reformbewegung gerade dank Chatamis Behutsamkeit aus den provozierten Konflikten gestärkt hervor. In einer Gesellschaft voller schwer kontrollierbarer und gewaltbereiter paramilitärischer Gruppen erwies sich Chatamis Taktik als die politisch weitsichtigere. Seine durchaus mit Mandelas Versöhnungsstrategie vergleichbare Politik, die eigene machtpolitische Schwäche in moralische Stärke und eine darauf beruhende politische Macht umzumünzen, ist ein unschätzbarer Quell der politischen Glaubwürdigkeit Chatamis in den Augen der Bevölkerung, aus der auch die Reformbewegung ihre Kraft schöpft. Nun aber steht Chatami vor der Wahl, entweder hinter den Kulissen erneut einen Kompromiss durchzusetzen, ohne die Ziele der Reformbewegung zu verraten, oder aber seinen Rücktritt zu erklären. Die letzte Möglichkeit würde durchaus nicht das Ende der Reformbewegung bedeuten. Würde er mit seinem Rücktritt gleichzeitig die Bevölkerung zur Geduld und Besonnenheit aufrufen, sie ermutigen, die Erfahrungen der Demokratisierung an der Basis fortzuentwickeln und die Provokationen zur gewaltsamen Auseinandersetzung ins Leere laufen zu lassen, so würde er der Legitimationskrise der theokratischen Machtelite drastisch verschärfen. Und genau dies ist die wirksamste „Waffe“ gegen eine religiöse Elite, die bis zu den Zähnen bewaffnet ist und alle staatlichen Machtinstrumente dominiert. MOHSEN MASSARAT
Der Autor ist Professor an der Universität Osnabrück.
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