INTERVIEW: „Es geht um Aufarbeitung“
■ Keine Gnade: Der Rechtsstaat soll wiederhergestellt werden
Emilio Vesce, 48, Professor für Italienisch und Geschichte, wurde am 7.April 1979 zusammen mit mehreren hundert Angehörigen der „Autonomia Operaia“ verhaftet und saß für eineinhalb Jahre in U-Haft. In erster Instanz wegen bewaffnetem Aufstand zu 14 Jahren verurteilt, wurde er mittlerweile in der Revision freigesprochen. Seit 1987 gehört er für die Radikale Partei dem Parlament an.
taz: Emilio, mehrere Monate lang schien sich alles fast auf eine wie auch immer geartete „Aussöhnung“ zwischen den Ex-Militanten des „Bewaffneten Kampfes“ und der italienischen Gesellschaft hinzubewegen. Seit der Festnahme des Brigadisten- Nachfolgers Fosso dominiert aber wieder die Terrorismus-Angst. Was steckt dahinter?
Vesce: Zunächst einmal: Bei der Debatte geht es nicht um die Auseinandersetzung bloß der Ex-Brigadisten mit dem Staat, sondern um eine Aufarbeitung all der Bewegungen und Auseinandersetzungen der 70er Jahre. Der „Bewaffnete Kampf“ aus dieser Zeit ist, wie mittlerweile auch die letzten Ex- Brigadisten einsehen, zu Ende und verloren; er war ja von Anfang an ein schwerer Irrtum. Doch was nun aufzuarbeiten ist, gehört in den Rahmen einer viel weiteren, sozialen Bewegung, die Zehntausende, Hunderttausende politisch Militanter jener Jahre einbeziehen muß – und, vor allem, auch die Leute auf der sogenannten „anderen Seite“, die Politiker jener Epoche, die Polizei, die Richter. Merkwürdigerweise, immer, wenn sich die Debatte konkretisiert, passiert etwas, das sie wieder verhindert.
Bisher ist sie allenfalls leiser geworden. Diesmal aber sprechen alle nur noch über den angeblichen Entführungsplan gegenüber dem christdemokratischen Parteichef De Mita.
Diesmal war die Diskussion auch in einem anderen Stadium: Die Debatte um die Aufarbeitung der 70er Jahre ist so konkret geworden wie noch nie. Faktisch alle „historischen“ Führer der Roten Brigaden haben mittlerweile Erklärungen dazu veröffentlicht; gleichzeitig ist einer unserer „Autonomen“, Franco Piperno, freiwillig aus dem Exil ins Gefängnis zurückgekehrt; auf der anderen Seite haben Spitzenpolitiker wie der Christdemokrat Flaminio Piccoli zu einem „Ende des Notstandsdenkens“ aufgerufen. Damit bahnte sich erstmals ein Dialog auf der Ebene an, die die Roten Brigaden in ihrer „aktiven Zeit“ vergeblich gefordert hatten: eine Art Verhandlung zwischen dem „Herz des Staates“ – vertreten durch Top-Politiker – und dem „Bewaffneten Kampf“. Eine Optik, die nach meiner Meinung verfehlt ist, denn eine soziale Bewegung kann sich nicht alleine auf Politiker konzentrieren, sondern muß eben die gesamte Gesellschaft umfassen. Dennoch: Die mögliche „Anerkennung“ der Brigadisten ruft all die Notstands- Fans der Vergangenheit wieder auf den Plan.
Viele eurer Kritiker monieren, daß man nun allenthalben um die „Aufrührer“ debattiert, aber die Opfer des „Bewaffneten Kampfes“ dabei vergißt.
Es gibt eine unglaubliche Instrumentalisierung der Opfer. Niemand will und darf sie vergessen; sie sind der Blutzoll des Horrors. Doch diejenigen, die sie als nationale Helden aufs Podest stellen, wollen gleich nichts mehr von den Opfern wissen, wenn man auch die Namen der vielen hundert völlig unbeteiligter Menschen ins Spiel bringt, die aufgrund der Ausnahmegesetze von der Polizei und den Ordnungskräften getötet oder geschädigt wurden.
Was wären denn die zentralen Punkte der Debatte?
Erstens eine Aufhebung der Sondergesetze aus den 70er Jahren. Denn bekanntlich sind nahezu alle Militanten nach Sondergesetzen verurteilt worden, die man eiligst nachträglich verabschiedet hat, und die in vielen Punkten den demokratischen Gleichheitsgrundsatz verletzen. Zweitens eine Revision aller bisher gefällten Urteile im Hinblick auf Straffeststellung nach „normalem“ Recht, also nicht nach Notstandsgesetzen. Drittens eine genaue Klärung der politischen und sozialen Verantwortlichkeiten für die Vorgänge jener Zeit – auf allen Seiten. Es geht also nicht um Gnade oder Strafrabatt. Es geht ausschließlich um die politische Aufarbeitung der Vergangenheit – und die Wiederherstellung des Rechtsstaates.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen