INTERVIEW: „Lange genug eingeschlossen“
■ Eduard Schewardnadse, Ex-Außenminister der UdSSR, im 'World Media‘-Interview
'World Media‘: Es wird manchmal vermutet, daß die Emigranten aus dem Süden demnächst durch Emigranten aus Osteuropa ersetzt werden. Halten Sie das für möglich?
Eduard Schewardnadse: Es wird alles von der Stabilisierung der Wirtschaft abhängen, von der Einführung der Marktwirtschaft in den Ländern Osteuropas. Wenn dieser Prozeß sich beschleunigt, dann glaube ich nicht, daß die Emigration aus Osteuropa zu einem destabilisierenden Faktor wird.
Die Arbeiter aus den osteuropäischen Ländern könnten sich aber trotzdem als billiger erweisen als die aus dem Süden.
Ich hoffe, daß die Länder Osteuropas sich schneller als wir reorganisieren und neu orientieren werden, weil Europa, die Vereinigten Staaten von Amerika und die anderen Länder ein Interesse daran haben, ihnen bei der Neuordnung ihrer Wirtschaft zu helfen. Und ich meine, daß das dazu beitragen wird, eine Massenemigration zu verhindern.
Stellt die Emigration eine Gefahr für Osteuropa und die UdSSR dar?
Eine Massenemigration ist natürlich nicht angenehm. Was die Sowjetunion betrifft, so muß man schon jetzt nach Maßnahmen gegen die Krise und gegen die Emigration suchen, um sie zu verhindern. Aber diese Maßnahmen dürfen nicht mit Zwang verbunden sein, weil die Menschen dadurch erst recht zur Ausreise gebracht würden. Alle Welt beklagt heutzutage den „brain drain“, den Weggang von jungen Talenten. Es soll die Gefahr bestehen, daß das Land keine Maler, keine Schauspieler und so weiter mehr hat.
Ich sage es Ihnen ganz offen: Das sind Hirngespinste von Provinzlern. Denn selbst wenn es Abwanderungen in großem Ausmaß gibt, dann halte ich das für einen positiven Faktor: Die Menschen sollen reisen, sie sollen die Erfahrung und das Wissen von anderen kennenlernen. Wir waren lange genug eingeschlossen, wir haben in einer geschlossenen Gesellschaft gelebt. Ist es denn grundsätzlich schlecht, wenn ein junger Mann, zum Beispiel ein Student der Universität Moskau oder ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, der die ganze Zeit in seinem Laboratorium steckt und schließlich nichts mehr sieht, ist es schlecht, wenn er sieht, was in Pariser Laboratorien oder amerikanischen Forschungszentren geschieht? Und auf dem Gebiet der Kunst wollen viele das Land nicht endgültig verlassen, sondern nur für zwei oder drei Jahre ins Ausland gehen, um dort zu studieren. Das finde ich absolut normal.
Und das wird für die Sowjetunion eine Bereicherung sein?
Ganz bestimmt. Die meisten werden auf jeden Fall zurückkommen. Zehn bis fünfzehn Prozent werden im Westen bleiben, aber wenn die Hälfte zurückkommt, dann sind das schon Männer mit ganz anderen Fähigkeiten, sie diskutieren auf einer anderen Ebene, sie haben eine andere Berufsausbildung. Dadurch wird das intellektuelle Potential des Landes bereichert.
Interview: Igor Jakowlew
Vollständige Fassung in: Die neue Völkerwanderung
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen