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INTERVIEWWHO-Experte: „Aids wird niemals völlig verschwinden“

■ James Chin, Leiter der Aids-Überwachung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), analysiert die weltweite Ausbreitung des HIV-Virus und nennt neue Zahlen

taz: Die Weltgesundheitsorganisation präsentiert auf der Konferenz in Florenz eine neue Abschätzung der weltweiten Situation. Die Zahl der Infizierten bis zum Jahr 2000 wird jetzt mit 40 Millionen Menschen angegeben. Warum haben Sie ihre Zahlen so drastisch nach oben korrigiert?

James Chin: Wir versuchen ein Zukunftsbild zu entwerfen und benutzen dazu sogenannte Delphy-Studien. Das heißt, wir befragen in den jeweiligen Regionen die Experten. Dann sehen wir uns die Spannbreite ihrer Zahlen an, wir mitteln sie und versuchen eine Abschätzung zu geben. Das letzte Mal haben wir dies im Jahr 1988 getan. Damals ging unsere Delphy-Studie von weltweit 15 bis 20 Millionen HIV-Infektionen bei Erwachsenen im Jahr 2000 aus. Inzwischen haben wir aber mehr und mehr Daten erhalten. Diese Daten waren nicht völlig überraschend. Aber sie haben eine schnellere Ausbreitung von HIV gezeigt, als wir 1988 angenommen haben.

Welche Regionen sind davon vorwiegend betroffen?

In Afrika hat die Zahl der HIV-Infektionen von 1987 bis heute dramatisch zugenommen. Die Schätzungen für Afrika lagen 1987 noch bei 2,5 Millionen, heute geht man schon von fünf bis sechs Millionen Infizierten aus. Zum Vergleich: In Nordamerika sind gegenwärtig etwa eine Million Menschen mit HIV infiziert, in Westeuropa etwa eine halbe Million. Unübersehbar ist auch der starke Anstieg in Süd- und Südostasien, der dort seit 1989 beobachtet wird. Wenn man die neuen Zahlen nimmt und dabei vor allem die Entwicklung in Asien stärker berücksichtigt, würde man heute sagen, daß wir im Jahr 2000 etwa 30 Millionen HIV-Infektionen unter Erwachsenen haben. Dazu kommen noch fünf bis zehn Millionen infizierter Kinder, die in den früheren Abschätzungen nicht enthalten waren.

Wie verläßlich sind die Zahlen, die Sie von ihren Delphy-Experten erhalten? In Afrika gibt es ja keine Erfassung der HIV-Infektionen.

Seit 1986 wurde sehr viel getan, um einen Überblick über die HIV-Ausbreitung zu erhalten. Für Afrika ist die Zahl der epidemiologischen Studien inzwischen größer als für jede andere Region auf der Welt. Wenn man diese Studien und Stichproben zugrunde legt, kann man den aktuellen Stand der HIV-Infektionen annähernd bestimmen. Dies sind grobe Abschätzungen, die wir in den nächsten Jahren präzisieren werden. Aber es ist wichtig, solche Zahlen zu nennen, damit das globale Ausmaß der Aids-Epidemie begriffen wird.

Die weitere Ausbreitung wird maßgeblich vom Erfolg und Mißerfolg der weltweiten Aids-Kampagnen abhängen.

Natürlich. Jeder Durchbruch in der Prävention, in der Therapie oder in der Impfforschung würde zu einer Revidierung unserer Abschätzungen führen. Ich glaube aber nicht, daß Medikamente oder Vakzine in absehbarer Zeit universal anwendbar und in allen Ländern verfügbar sind. Wir müssen uns klarmachen, daß Aids ein Problem der Menschheit bleiben wird. Es wird niemals völlig verschwinden. Auf welchem Niveau sich Aids in den einzelnen Ländern als Gesundheitsproblem etablieren wird, hängt davon ab, inwieweit die Bevölkerung ihr Sexualverhalten darauf einstellt.

In Deutschland und in anderen Industrienationen scheint die Aufmerksamkeit für Aids erschöpft.

Das ist die Sorge, die wir in der WHO mit vielen Gesundheitsministerien und Medizinern teilen. Die Tatsache, daß sich in den Industrieländern ein Rückgang bei der Zahl der Neuinfektionen abzuzeichnen scheint, hat eine Selbstzufriedenheit vor allem unter Heterosexuellen geschaffen. Die Ausbreitung von HIV ist hier tatsächlich langsamer, als sie etwa in den 80er Jahren unter den Homosexuellen war. Sie ist langsam, aber sie ist auch stetig. Und in den USA ist sie gar nicht so langsam, auch nicht in Großbritannien. Viele denken vorschnell, daß alles schon vorbei ist.

Welches sind Ihre größten Probleme im Kampf gegen Aids? Armut und fehlende Mittel für Aufklärung und Verhütung oder die Vorurteile, die Moral?

Ich glaube, es ist alles zusammen. Die Entwicklungsländer haben natürlich größere Probleme, weil ihnen die Ressourcen sowohl für Präventionsprogramme fehlen als auch für die Vorbereitung ihres Gesundheitssystems auf die Aids-Lawine. Für die Industrienationen ist Aids ein Problem, mit dem man umgehen kann. Es gehört sicher zu den großen Gesundheitsproblemen wie Krebs oder die Herz-Kreislauf-Krankheiten, aber man kann damit fertig werden. Die Entwicklungsländer dagegen haben es schon nicht geschafft, mit der Malaria oder mit der Unterernährung fertig zu werden. Wie sollen sie es dann bei einer Krankheit mit der Dimension von Aids schaffen, die junge Erwachsene in ihren produktivsten Jahren befällt? Aids ist auch eine Katastrophe für die Entwicklung dieser Länder, die eng an die jungen erwachsenen Hoffnungsträger gekoppelt ist.

Zur Verhütung von Aids gehört auch das Überprüfen der Blutkonserven auf HIV. Wird dies inzwischen in allen Teilen der Welt praktiziert?

In den Entwicklungsländern werden die Blutkonserven immer regelmäßiger auf HIV getestet. Allerdings muß in manchen afrikanischen Ländern diese Praxis noch auf alle Landesteile ausgedehnt werden. Es gibt hier gelegentlich noch Probleme, aber in den betreffenden Ländern ist man sich dessen sehr, sehr bewußt. Ansteckungen durch Blutübertragungen sind heute weitgehend ausgeschaltet, wenn auch nicht zu 100 Prozent.

Ein ganz anderes bedrückendes Problem ist die Übertragung des Virus von der infizierten Mutter auf ihr Kind.

Die Aids-Epidemie bei Kindern ist sehr schwer vorherzusagen. Man kann sie aber abschätzen, ausgehend von der Zahl der infizierten Frauen. Doch leider gibt es noch zu viele Dinge, die wir nicht verstehen. Wir kennen immer noch nicht die genaue Übertragungsrate von der Mutter zum Kind. Wir kennen noch nicht den Zeitpunkt der Schwangerschaft, an dem die Übertragung erfolgt. Wir wissen auch nicht, ob nicht zukünftig wegen Aids viel weniger Kinder auf die Welt kommen. Deshalb ist es so schwer, genaue Zahlen zu nennen. Die bestmögliche Abschätzung geht von fünf bis zehn Millionen Kindern im Jahr 2000 aus.

Der angenommene Prozentsatz von infizierten Müttern, die das Virus auf ihre Kinder übertragen, konnte zum Glück in der Vergangenheit mehrfach nach unten korrigiert werden. Wie hoch ist er jetzt?

Das ist das Problem. Es gibt viele Studien dazu mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Die letzten Arbeiten aus Europa legen eine Übertragungswahrscheinlichkeit von zehn oder 15 Prozent nahe. Andere Studien aus Afrika sprechen dagegen von 50 oder sogar von 60 Prozent.

Wie sind solche Unterschiede erklärbar?

Eine naheliegende Möglichkeit ist, daß die Übertragungswahrscheinlichkeit stark vom Zeitpunkt der Infektion der Mutter abhängt. Wenn die Frau in den ersten Jahren ihrer Infektion schwanger wird und selbst noch keine Krankheitssymptome hat, ist die Infektionsrate vermutlich geringer. Aber dazu brauchen wir noch mehr wissenschaftliche Studien.

Wie fühlt sich ein Verwalter der Misere, der die Ausmaße dieser Epidemie berechnet und hilflos zusehen muß, wie die Zahlen immer größer werden?

Es ist meine Aufgabe, das Problem zu berechnen und abzuschätzen. Rein technisch betrachtet ist dies eine herausfordernde und verantwortungsvolle Aufgabe. Der Versuch, Aids unter Kontrolle zu bekommen und Präventionsprogramme durchzuführen, ist sicher eine noch größere Herausforderung. Daran bin ich zwar persönlich nicht direkt beteiligt, aber ich verfolge es mit großer Anteilnahme und großem Interesse.

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