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INTERVIEWSprengsatz

■ Rechtsradikalismus kommt aus dem Zentrum der Gesellschaft

taz: Herr Heitmeyer, in den letzten Tagen hat es eine Serie von gefährlichen Anschlägen auf Flüchtlingsheime in ganz Deutschland gegeben. Hat Sie dieser Ausbruch von Gewalt überrascht?

Wilhelm Heitmeyer: Zunächst einmal muß man der Gefahr begegnen, daß die vielen Anschläge nur noch als Statistik wahrgenommen werden, denn jeder einzelne Überfall ist ein Drama für die betroffenen Personen. Sonderlich überrascht bin ich aber nicht, denn seit dem 1987er Wahlerfolg der Rechtsradikalen in Bremen ist im politischen Bereich ja überhaupt nichts geschehen. Wachsende rechtsradikale Orientierungen sind ja gerade nicht Zufallserscheinungen, sondern Folgen von dramatischen gesellschaftlichen Desintegrationsprozessen, die sich zum Beispiel darin ausdrücken, daß immer weniger Menschen an Wahlen teilnehmen oder in demokratischen Institutionen mitarbeiten. Gerade bei den Jugendlichen spitzen sich solche Entwicklungen zu. Das Aufwachsen vollzieht sich immer häufiger als ein Individualisierungsprozeß.

Solche Vereinzelungsprozesse hat es in der früheren DDR doch nicht gegeben. Gemeinschaft und Zusammenhalt war in vielen Jugendverbänden erlebbar. Ein Wall gegen rechtsradikale Orientierungen wurde damit aber offenbar nicht errichtet?

Aufgewachsen sind die DDR- Jugendlichen auf dem Hintergrund relativ autoritärer Strukturen und unter den Bedingungen der Repression. Ich bezweifle sehr, ob das, was in solchen repressiven Strukturen abläuft, zum Teil zwangsweise und ritualisiert, wirklich inhaltliche Solidarerlebnisse ermöglicht. Alles, was in diesem Zusammenhang unter Druck passiert, zerfällt sehr schnell, wenn der Alltag unübersichtlich wird und die Außensteuerung wegfällt. Die Solidarerlebnisse in der DDR-Staatsjugend waren hohl, was ja nicht zuletzt dazu geführt hat, daß sich viele Jugendliche schon früh von der offiziellen Staatsjugend entfernt und sich in Nischen zurückgezogen haben, die jetzt auch nicht mehr existieren.

Wie groß ist der Anteil der Jugendlichen, die in Deutschland anfällig für rechtsradikale Orientierungen sind?

Das ist zwar eine beliebte Frage, doch ich bin inzwischen sehr skeptisch, ob diese Frage noch von Relevanz ist. Es nutzt ja nichts zu wissen, daß es nach der einen Untersuchung vielleicht 15 Prozent, nach einer anderen sogar 30 Prozent sind. Entscheidend ist doch, welche Verhaltensmuster sich dahinter verbergen und da gibt es viel Nachholbedarf.

In der öffentlichen Debatte wird ja so getan, als seien wir im Westen wesentlich weiter, als müßten die Menschen in den neuen fünf Ländern den Umgang mit Ausländern erst noch lernen. Sind wir wirklich weiter?

Nein, wir sind mit Sicherheit nicht weiter. Wir gehen nur raffinierter damit um. In Hoyerswerda lagen Frau Hinz und Herr Kunz im Fenster und applaudierten ungeniert der Vertreibung der Asylbewerber. In Essen haben dagegen die Bürger schon vor längerer Zeit einer Straße im Geheimen Skins engagiert und dafür bezahlt, ein Flüchtlingsheim zu überfallen.

Sie orten den Rechtsradikalismus nicht am Rande der Gesellschaft, sondern Sie sagen, daß solche Orientierungen direkt aus dem gesellschaftlichen Zentrum kommen. Wie faul ist der Kern?

In bezug auf die ganz normalen Bedingungen des Aufwachsens kann man sagen, daß immer mehr Jugendliche die Probleme, die mit den ambivalenten Individualisierungsprozessen zusammenhängen, nicht in den Griff bekommen. Hilfen von außen gibt es kaum. Von der politischen Ebene werden die zerstörerischen Seiten des Modernisierungsprozesses, die ökonomische Ursachen haben, kaum thematisiert. Zu den desintegrierenden Faktoren gehören die veränderten Zeiterfahrungen, mit denen Kinder und Jugendliche heute konfrontiert werden. Die Arbeitszeitflexibilität, die ja immer mehr zu einem Flexibilitätszwang wird, führt in den Familien zu einer problematischen Zeitzerstücklung, da die Probleme, Nöte und Wünsche der Kinder und Jugendlichen vorrangig in die von den flexibilisierten Erwachsenen übriggelassenen Zeit-Lücken hineingestopft werden.

Gerade die Auflösung von tradierten Rollenbildern in den Familien erfordert jedoch ein Mehr an Koordinierung, an Abstimmung und Diskussion und damit ein Mehr an gemeinsam geteilter Zeit. Genau diese geht aber verloren — und damit Stabilität und Verläßlichkeit. Neue Freiräume, auch als Ergebnis der Individualisierungsprozesse, lassen sich aber ohne Verläßlichkeit nicht genießen, sondern sind angstbesetzt. Angst muß aber in einer auf Durchsetzung getrimmten Gesellschaft zunehmend verborgen werden. Mädchen folgen diesem Muster noch, aber gerade die Jungen suchen danach, ihre Angst — selbstverständlich durch Cool-Sein verborgen — zu verarbeiten. Das geschieht dann, indem sie mittels der Sicherheit der Gruppe anderen Angst einjagen.

Die Zeitzerstücklung hat auch etwas mit der Lockerung von sozialer Verantwortung zu tun und dadurch sinkt die Gewaltschwelle, denn in vielen Situationen besteht für die Jugendlichen überhaupt nicht mehr die Notwendigkeit, die Folgen ihres Tuns für andere zu bedenken. Das ist eine dramatische Entwicklung. Hinzu kommt, daß sich die Selbstkonzepte in dieser Gesellschaft verändert haben. War in den 60er Jahren noch die Selbstverwirklichung ein Leitmotiv für die Jugendlichen, so stand in den 80ern angesichts der Knappheit von Ausbildungsplätzen die Selbstbehauptung im Zentrum. Dieses Motiv gibt es weiter, aber jetzt kommt verstärkt das Muster der Selbstdurchsetzung hinzu. Dabei steht die aggressive Dominanz gegenüber anderen im Vordergrund, die sich über alle sozialen Bedenken hinwegsetzt. So verhalten sich im übrigen in erster Linie Jugendliche mit hohem Bildungsniveau.

Wenn Ihr Befund zutrifft, dann sieht die gesellschaftliche Perspektive düster aus, dann droht am Horizont etwas aufzusteigen, was an die 30er Jahre erinnert.

Mit dieser Analogiebildung bin ich nicht sehr glücklich, aber ich erwarte in Zukunft weiträumige Desintegrationsprozesse, die sich an vielen Stellen auch gewaltsam äußern werden. Politisch wird sich das in rechten und rechtsextremen Orientierungen niederschlagen.

Wenn dieser Prozeß ein Ergebnis der herrschenden Produktions- und Arbeitsweise ist, dann stellt sich ja erneut die Systemfrage?

So ist es. Notwendig ist in der Tat eine völlig neue Kapitalismuskritik, da die sozialen und politischen Desintegrationsprozesse und die Gewalt die zentralen Themen der Zukunft sein werden.

Die große Alternative scheint in diesen Tagen weniger wahrscheinlich denn je. Sind die Politiker völlig handlungsunfähig?

Nach meinen Erfahrungen, die ich gerade auch bei einer Anhörung des Bundestagsausschusses für Jugend über die Situation der Jugendlichen in Ostdeutschland gesammelt habe, kann ich nur davon ausgehen, daß da eine vollkommen autistische Politik, also eine von den realen Prozessen völlig isolierte Politik betrieben wird. Davon erwarte ich derzeit überhaupt nichts.

Was können die Menschen, die nicht nur einfach zuschauen wollen, tun, wenn die offizielle Politik so total versagt?

Es ist überhaupt keine Frage, daß der Schutz von Fremden massiv organisiert werden muß und gegen diejenigen, die die Anschläge verüben, die staatlichen Organe repressiv vorgehen müssen. Gleichzeitig kann die Repression auf Dauer das Problem aber sicher nicht lösen. Zunächst einmal muß die Politik von der vollkommen widersprüchlichen Ausländerpolitik Abschied nehmen. Man kann nicht auf die Internationalisierung der Märkte setzen und gleichzeitig im Inland Homogenitätsversprechen abgeben. Da sitzt ein Sprengsatz. Gleichzeitig müssen aber die Schützengräben von menschenverachtender Fremdenfeindlichkeit einerseits und menschenüberfordernder Fremdenfreundlichkeit, die das Bild vom fehlerlosen Fremden transportiert, anderseits, endlich verlassen werden. Dieses Bild widerspricht jeglicher Alltagserfahrung und produziert Verdrängungen, verhindert Offenheit, zu der auch das Zulassen von wechselseitiger Kritik gehört. Voraussetzung dafür ist, daß Ausländern rechtliche Sicherheit garantiert wird. Interview: Walter Jakobs

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