INTERVIEW: Noch gibt es kein Parteiensystem im neuen Lettland
■ Jänis Dinevics ist Vorsitzender der Volksfront im Parlament Lettlands. Die Volksfront tagte zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit des Landes.
taz: Wenn man bedenkt, daß die Volksfront, die Organisation der lettischen demokratischen und nationalen Bewegung, erst 1988 gegründet wurde, dann ist es schon erstaunlich, was seitdem alles erreicht worden ist. Lettland ist nun ein unabhängiges und diplomatisch vom Ausland anerkanntes Land. Hat sich deshalb die Volksfront jetzt überlebt?
Jänis Dinevics: Noch nicht. Aber bereits heute zeichnet sich ein Modell ab, nach dem die Volksfront in ein, zwei Jahren nur noch als ein Dach für ein ganzes Spektrum von politischen Organisationen fungieren wird. Aber bis dahin wird sie noch in der bisherigen Form weiterexistieren, auch aus Gründen der Stabilität. Denn ein zu schnelles Auseinandergehen würde bedeuten, daß wir kaum in der Lage sein werden, den Übergang in die Marktwirtschaft ruhig zu gestalten. Dafür brauchen wir eine große Mehrheit im Parlament, und die haben wir jetzt.
Lettland wird in nächster Zeit also noch keine Mehrparteiendemokratie werden?
Die weitere Entwicklung in dieser Richtung hängt von der Verabschiedung eines entprechenden Wahlgesetztes ab, das noch nicht ernsthaft in Angriff genommen worden ist. Die Bildung von Parteien wird langsam verlaufen. In der Gesellschaft herrscht nämlich eine große Abneigung gegen jede Art von Partei. Was das Wahlgesetz betrifft, tendieren wir hin zu einer Kombination von Persönlichkeits- und Listenwahlrecht ähnlich wie das in der BRD.
Die Volksfront ist jetzt schon ein Konglomerat unterschiedlicher politischer Strömungen.
Sicherlich, es gibt das ganze Spektrum von politischen Meinungen hier in Lettland wie in anderen Ländern auch. Ich meine, daß die Hauptströmung dieser Gesellschaft in die sozialliberale Richtung geht.Ich bin ja selbst Mitglied der lettischen Sozialdemokratie, und für uns hängt die Zukunft davon ab, ob wir in der Wirtschaftspolitik und der Sozialpolitik mehrheitsfähige Positionen entwickeln können. Die Menschen hier wollen beim Übergang zur Marktwirtschaft gewisse soziale Garantien erhalten wissen. Die hiesigen Konservativen sind nicht in der Lage, eine Politik anzubieten, die mehrheitsfähig ist.
Immerhin hat der Repräsentant des nationalistischen Flügels Andrejs Rucs, 189 Stimmen bei der Wahl des Vorsitzenden erhalten. Der Vorsitzende Razuks errang zwar 337 Stimmen. Und der hat in der Frage der Staatsbürgerschaft für Nichtletten auch eine harte Position. Das könnte doch bedeuten, daß im Gegensatz zu ihrer Meinung die konservativen Strömungen in der Mehrheit sind.
Wie gesagt, die Gefahr besteht, daß populistische Stimmungen die Sachdiskussionen überlagern werden. Es ist meiner Ansicht nach jedoch ungeheuer wichtig, wie mit den nichtlettischen Minderheiten in dieser Republik in Zukunft umgegangen wird. Sollte bis zur nächsten Wahl die Staatsbürgerfrage nicht geregelt worden sein, besteht in der Tat die Gefahr, daß Kräfte, die weder ein Wirtschafts- noch ein Sozialprogramm vorlegen können, allein mit dieser Frage in die Wahlen gehen und nicht unerhebliche Stimmenanteile erringen können.
Sie sind Chef der Volksfront im lettischen Parlament, also der „Mehrheitsfraktion“. Es gibt aber noch die Vertreter der Russischen Minderheit, die Fraktion „Gleichberechtigung“. Wie haben die sich seit dem Putsch verhalten? Sie wollten ja eine Loslösung Lettlands von der UdSSR zu verhindern, das hat sich mit dem gescheiterten Putsch zerschlagen.
Diese Fraktion ist auseinandergefallen, ein Teil hat eine neue Fraktion gebildet, und manche betrachten sich als Unabhängige. Viele saßen mit uns im Parlament, als um uns herum geschossen wurde, sie haben sich also loyal verhalten. Andere haben mit der anderen Seite, mit dem Militär, paktiert. Gegen diese Leute wurden Ermittlungsverfahren eröffnet.
Wie versuchen Sie jetzt mit dieser Situation fertigzuwerden. Wäre es nicht angebracht, allen Nichtletten gegenüber ein Friedensangebot zu machen. Es gab sogar herbe Kritik an der Fraktion, weil der Parlamentsbeschluß am 15. Oktober festschrieb, daß auch Nichtletten die Staatsbürgerschaft erhalten könnten. Hier auf dem Kongreß sind allerdings kaum Nichtletten anwesend.
Was sollen sie auch bei uns suchen, wenn sie vom Vorsitzenden der Volksfront zur Eröffnungsrede zu hören bekommen, die Forderung der nationalradikalen Kräfte nach einer äußerst restriktiven Haltung in der Staatsangehörigkeitsfrage sei im Grunde korrekt, und daß die Volksfront zur Verteidigung der legitimen Bürger Lettlands angetreten sei. Man kann sich gewiß hinstellen und verkünden, in Lettland habe eine Okkupation und Annexion durch die UdSSR stattgefunden. Ich halte diese Position heute für einen Irrweg und eine Sackgasse. Sollte sich die Volksfront auf eine solche Einstellung festlegen, werden die Parlamentarier, die Abgeordneten der Volksfrontfraktion, diesen Schritt nicht nachvollziehen können.
Die Fraktion der Volksfront steht also damit im Gegensatz zur Partei oder Bewegung der Volksfront und will die Brücken zu den Nichtletten nicht abbrechen lassen?
Nein. Ich bin doch selbst auch von Nicht- Letten ins Parlament gewählt worden. Interview: Ojars J. Rozitis
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