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INTERVIEW„Das Volk will eine starke, demokratische Ukraine“

■ Der ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk, zur Zeit zu Besuch in Bonn, über die Notwendigkeit eines selbständigen Entwicklungsweges

taz: Die ersten hundert Tage Ihrer Präsidentschaft sind vorüber. Wie steht es um Ihr Land derzeit...?

Krawtschuk: Wenn das Volk einen Präsidenten wählt, beauftragt es ihn damit, seine Interessen zu verteidigen. Das Volk muß beruhigt sein und daran glauben, daß sein Präsident auch seinen Willen erfüllt. Dieser Wille aber ist heute: einen unabhängigen Staat aufzubauen. Unsere Aufgabe besteht darin, diesen neuen Staat dem Volk zu übereignen, jenem Volk, dem in seiner ganzen Geschichte das Recht auf Unabhängigkeit vorenthalten wurde. Das ist das Schrecklichste, was sich ein Mensch vorstellen kann. Daher setze ich alles daran, damit wir wenigstes in einem halben Jahr sagen können: Es gibt nicht nur eine unabhängige Ukraine, sondern eine starke unabhängige Ukraine, die ihre eigenen Streitkräfte besitzt, ihre eigenen staatlichen Strukturen und Gesetze, die den Bedürfnissen des Volkes entsprechen. Dann werden wir sagen: Es gibt eine mächtige und starke Ukraine. Ökonomisch wird sie noch nicht so stark und reich sein. Dafür braucht es seine Zeit.

Was wir nicht haben, aber brauchen: eine ukrainische Weltanschauung, eine Philosophie ukrainischer Identität. Wir wollen eine neue, demokratische und unabhängige Ukraine aufbauen, das ist alles, das ist unser Rüstzeug. Zeitgenössische Gedanken, die an unsere Wurzeln und Traditionen anknüpfen würden, gibt es nicht. Die Probleme ideologischer Natur hat „Ruch“ [Ukrainische Unabhängigkeitsbewegung] an sich gerissen. Der „Kongress der Ukrainer“, das „Forum der Völker der Ukraine“ in Odessa, die „Sammlung und Einigkeit der Ukrainer“ — das sind gegenwärtig die ideologischen Zentren. Und es ist wahr, sie haben noch keine tiefere philosophische Basis, weil darüber bisher keiner ernsthaft nachgedacht hat. Die ideelle Grundlage der neuen Ukraine müssen wir erst entwerfen. Dann werden wir es leichter haben, daraus auch die entsprechenden politischen und kulturellen Strukturen zu entwickeln.

Auch die Ukraine ist ein Vielvölkerstaat. Wie wird sie längerfristig mit dieser ethnischen Heterogenität umgehen, die eine Menge an psychologischem Geschick erfordert?

Die Wurzel dieses Problems liegt in unserer Geschichte. Ich kenne die Westukraine, bin dort geboren worden und habe auch dort gearbeitet. Mir sind die ständigen Anspielungen geläufig, es gäbe die Ukraine und eine „Halbukraine“. [Krawtschuk spielt darauf an, daß Teile der Westukaine und das regionale Zentrum Lwow — ukrainisch Lwiw, deutsch Lemberg — bis zum Ende des 2. Weltkriegs zu Polen gehörten und das katholisch-unierte Glaubensbekenntnis die Bevölkerung von der übrigen Ukraine trennt. K.H.D.] Aber gerade in der Westukraine ist die national- ukrainische Unabhängigkeitsbewegung in der Bevölkerung tief verankert und hat eine Verve erreicht, die selbst uns in Kiew schwer begreiflich ist. Ich erinnere mich an meine erste Reise nach Lwow. Ich war schon gewöhnt daran, daß man mich nach der schlechten Versorgungslage fragte. Doch hier, in der ersten, in der zweiten Fabrik, niemand sagte etwas. Also fing ich an. Doch sie antworteten: Das interessiert uns nicht. Das wichtigste ist die Unabhängigkeit, das Licht am Ende des Tunnels. Ich dachte damals: Was für eine Willenskraft haben die Leute...

Es wird viel über den Platz der Ukraine in der GUS geredet. Priorität besitzt andererseits die Orientierung nach Europa, wo es allerdings noch an konzeptionellen Überlegungen fehlt.

Bisher haben wir nur gesagt, wir wollen in keinen Block. Wir sind ein Staat ohne Atomwaffen, blockfrei und neutral... Um uns in das neue Europa integrieren zu können, halten wir es nicht für notwendig, die Bindungen zur alten Union zu zerstören. Hier wurden unsere allgemeinen Strukturen errichtet, hier liegt der Schwerpunkt unseres Lebens. Doch all das beruhte bislang auf Monopolismus. Rußland hält das Monopol auf Öl, Gas und Holz in seiner Hand. Wir sagen, nicht etwa um Rußland zu beleidigen, es kann nicht alle übrigen Republiken miternähren. Selbst wenn Rußland es noch so sehr wollte. Auch nicht deswegen, weil Jelzin seine Sache schlecht machte. Die Produktion ist stark zurückgegeangen, und in diesen Regionen ist unbekannt, wer da eigentlich regiert. Wenn wir uns weiter nur nach Rußland orientieren, könnte in einem beliebigen Moment — in unserer revolutionären Zeit ist das nicht ausgeschlossen — irgendein russischer Präsident den Hahn zudrehen, und wir würden dann ohne Gas und Öl dastehen. Wir werden daher auf die Suche gehen. Schon jetzt arbeiten wir mit dem Iran und anderen Ländern zusammen.

Jelzin versucht mit seiner Mannschaft in Rußland Reformen durchzuboxen. Wo ist die vergleichbare Mannschaft für die Ukraine? Oder will sie sich weiterhin an die russischen Reformen anhängen?

Wir wiederholen die russischen Reformen nicht und werden das auch nie tun. Unsere Abhängigkeit von Rußland — das ist unsere Abhängigkeit vom Rubel. Der gemeinsame Währungsraum und das Angebundensein an die Rohstoffquellen zwingt uns, Rußland hinterherzutrotten. Aber wir werden den Weg einschlagen, den wir selbst gewählt haben. Wir haben Leute, die das können. Wir wollen nicht davon sprechen, daß sie eine neue Revolution vollbringen können. Das wird eine ruhige, ausgewogene und überlegte Arbeit sein. Hoch pokern wollen wir nicht.

Haben die Unstimmigkeiten zwischen Rußland und der Ukraine damit zu tun, daß Rußland die Unabhängigkeit der Ukraine einfach noch nicht verarbeitet, begriffen hat?

Zweifelsohne. Wir haben dafür auch Verständnis. Immer wieder weise ich bei Sitzungen darauf hin. Sobald Nursultan Nasarbajew (Präsident Kasachstans) den Vorschlag einbringt, ein gemeinsames Organ zu gründen, erinnere ich ihn, daß wir einzelne Staaten vertreten, die Gemeinschaft dagegen nicht den Charakter eines Staatswesens besitzt. Auch Boris Nikolaijewitsch [Jelzin] sage ich das. Und er schenkt dem Gehör. Aber es ist ja nicht die Frage eines einzelnen Menschen, sondern der ganzen Umgebung. Die Psychologie der russischen Führung stammt daher — nicht allein von oben. Ich sehe sie, wie sie um den Tisch rumsitzen und auf mich zukommen: Geben Sie die Andrejewsche Fahne zurück und dies und das. (Die andrejewsche Fahne ist die Flagge der Schwarzmeerflotte aus der Zarenzeit K.H.D.) Ich nehme keinerlei Schuldzuweisungen vor. Aber bitte stellen Sie sich vor, wenn Sie ständig ein Haufen Leute wie ein Fliegenschwarm umsummen würde, und von allen Seiten tönt es, so oder so muß es gemacht werden — wie würden Sie reagieren? Wenn Dir acht Stunden lang gesagt wird, wie großartig du bist und wie und daß Du führen mußt. Nehmen wir das Problem mit dem gemeinsamen Heer. Das ist keine technische, sondern eine politische Frage. Denken wir an die Folgen. Zwei Staaten, aber eine einheitliche Armee. Wer von den beiden Staatsmännern wird sie befehligen? Interview: Klaus-Helge Donath

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