INTERVIEW: „Das entspricht nicht der Lebenswirklichkeit“
■ Wolfram Setz, Vorstandsmitglied des BVH, zur Neuregelung des Paragraphen175
taz: Was ist die konkrete Kritik des Bundesverbandes Homosexualität (BVH) an dem vorliegenden Gesetzentwurf?
Wolfram Setz: Die Schwulenbewegung fordert seit zwanzig und mehr Jahren die Streichung des Paragraphen175. Deshalb kann eine Rechtsangleichung innerhalb Deutschlands auch nur in der ersatzlosen Streichung bestehen.
Das aber leistet der Entwurf nicht — er formuliert einen neuen Paragraphen, der an die Stelle des 175 tritt. Wir halten diesen neuen Paragraphen in sich für verfassungswidrig. Er widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes und erfüllt auch den selbstgestellten Anspruch auf Schutz der sexuellen Selbstbestimmung nicht. Als Offizialdelikt, als von Amts wegen zu verfolgendes Delikt, gibt er immer wieder Anlaß zu sogenannten vorbeugenden polizeilichen Maßnahmen wie Kontrollen, Razzien und Rosa Listen. Er gibt damit immer noch die wichtigste Grundlage für die gesellschaftliche Diskriminierung ab. Der neue Paragraph beeinhaltet auch — durch die Hintertür — weiter den Spielraum für das Eingreifen von Amts wegen nämlich bei „besonderem öffentlichen Interesse“. Der neue Paragraph ist nicht als reines Antragsdelikt formuliert.
Aber immerhin ist der 175er weg. Das ist doch etwas oder nicht?
Zum Glück trägt der neue Paragraph wenigstens nicht mehr die Nummer Hundertfünfundsiebzig. Das haben die Herren im Ministerium gelernt. Doch ist in der Begründung nur die Rede davon, daß der Hundertfünfundsiebziger „rechtshistorisch belastet“ sei — ein sehr verharmlosender und beschönigender Ausdruck dafür, daß damit hundertzwanzig Jahre unheilvoller Geschichte der Verfolgung verknüpft sind. Er ist historisch und nicht nur „rechtshistorisch“ belastet. Der neue Paragraph soll jetzt 182 heißen und hat zum Gegenstand den sexuellen „Mißbrauch“ von Jugendlichen. Mit dieser Verknüpfung ist der Skandal da: Denn die Aufhebung des Hundertfünfundsiebzig hat natürlich gar nichts mit „Mißbrauch“ zu tun. Der alte Paragraph 175, der unterschiedlos alle homosexuellen Handlungen von Männern bestrafte, wenn sie in bestimmte Alterskategorien paßten, bezog sich immer auf einvernehmliche Sexualität. In anderen Fällen griffen und greifen ja andere Paragraphen. Bei der Reform des Hundertfünfundsiebzig gibt es also keinen immanenten Anlaß, eine Strafbestimmung „sexueller Mißbrauch“ einzuführen. Es entsteht mit dieser Verknüpfung der Eindruck, daß ein Preis für diese Rechtsangleichung bezahlt werden soll.
Ist der „Handlungsbedarf“ in Sachen Sexualstrafrecht in Ihren Augen gerechtfertigt?
Dies kann vorurteilslos erst dann diskutiert werden, wenn die Gleichstellung erreicht ist. Und falls Handlungsbedarf besteht, dann muß der dingfest gemacht werden mit Argumenten. Dieser Entwurf begründet aber inhaltlich an keiner Stelle, weshalb die neue Bestimmung notwendig ist. Seine Begründung liefern weder neue gesellschaftspolitische Maximen noch bringt er sexualwissenschaftliche Ernkenntnisse. Da finden sich nur Behauptungen und Tautologien. Vor einer solchen Diskussion müßte es eine Sachverständigenanhörung geben, die die Erkenntnisse der letzten zwanzig Jahre zusammenträgt. Denn der neue Entwurf fällt hinter den Diskussionsstand der siebziger Jahre zurück. Bei so einer Anhörung muß auch die Frage gestellt werden, die oft gar nicht mehr gestellt wird: Ob es überhaupt eines gesonderten Sexualstrafrechts bedarf.
Worin fällt der Entwurf konkret zurück?
Plötzlich findet wieder Moral Eingang in das Sexualstrafrecht. So soll der Staat das Recht haben, Einflüsse von Jugendlichen fernzuhalten, die sich auf ihre „Einstellung zum Geschlechtlichen“ und damit auf die „Entwicklung ihrer Persönlichkeit nachteilig auswirken können“. Das ist nur unter moralischen Kategorien nachvollziehbar. Zusammengenommen mit der Aufhebung des Hundertfünfundsiebzig liegt hier der Verdacht nahe, daß die „Einstellung zum Geschlechtlichen“, die verhindert werden soll, allzusehr mit Homosexualität, homosexuellen Handlungen verknüpft wird. Auch die unbestimmten Begriffe „Mißbrauch“, „Unreife“ und „Unerfahrenheit“ oder auch „echte Liebesbeziehung“ lassen nichts Gutes ahnen.
Das neue sogenannte Schutzalter soll bei sechzehn Jahren liegen. Mittelalterlich, wenn man das europäische Ausland betrachtet.
Das ist ein bloßes Postulat und entspricht nicht der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen. Es werden überhaupt keine Gründe angeführt, warum in den neunziger Jahren das generelle Schutzalter von vierzehn angehoben werden muß.
In Holland liegt das Schutzalter etwa bei zwölf, verbunden mit einem qualifizierten Jugendschutz, der ein Antragsrecht für die Jugendlichen, die Eltern und die sogenannten „Jugendbeauftragten“ beinhaltet.
Warum rührt sich gegen das neue Schutzalter bei den Heterosexuellen nichts?
Der neue Paragraph läuft ja unter dem Titel Rechtsangleichung beim Hundertfünfundsiebzig. Also denkt der Großteil der Bevölkerung: Das geht mich nichts an. Interview: Hans-Hermann Kotte
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