INTERVIEW: „Es gibt kein Problem des Rückfalls“
■ Dieter Senghaas, Friedensforscher und Professor an der Uni Bremen, zur neuen Außenpolitik
taz: Herr Senghaas, bitte erklären Sie uns, warum Ihrer Meinung nach Genscher jetzt seinen Job aufgegeben hat.
Dieter Senghaas: Ich glaube, daß man die Gründe, die er öffentlich genannt hat, ernst nehmen muß. Spekulationen, nach denen sein Rücktritt mit Problemen der internationalen oder nationalen Politik zu tun hat, erscheinen mir abwegig.
Kann man sagen, daß der Rücktritt einer Zäsur in der deutschen Politik folgte? Wenn ja, worin würde diese bestehen?
Das Jahr 1991 war im Vergleich zum Jahr der Vereinigung sehr schwierig. Der Golfkrieg und die Jugoslawienkrise waren Erscheinungen, die man nicht mehr in Verlängerung des Jahres 1990 angehen konnte. Es gab auch sehr widersprüchliche Erwartungen. Man hatte als Ergebnis des Jahres 1990 zum Teil im Ausland ja massiv gefürchtet, dieses wiedervereinigte Deutschland sei zu groß, zu stark, würde möglicherweise einen zu großen Selbstbehauptungswillen entwickeln. Genscher wußte darum und hatte sich darauf eingestellt, eine Politik des Low-profile in internationalen Fragen — mit Ausnahme Europas — zu verfolgen. Auf der anderen Seite haben zum Teil genau diejenigen, die diese Befürchtungen artikuliert haben, an entscheidenden Stellen erwartet, daß Deutschland das ihm unterstellte Gewicht in die Waagschale wirft. Das waren Widersprüchlichkeiten in unserem Umfeld, und das hat natürlich zu Schwankungen und Widersprüchlichkeit in der eigenen Politik geführt, unvermeidlicherweise.
Würden Sie sagen, daß die deutsche Politik einfach desorientiert war, daß man es versäumt hatte, etwa im Fall Jugoslawiens, Vorsorge zu treffen?
Ich glaube nicht, daß das ein spezifisches Problem der deutschen Politik war. Es war für alle sehr schwierig, mit diesem Problem Jugoslawien umzugehen. Es gibt einen völkerrechtlich anerkannten Staat, der zerfällt, weil Teile sich von ihm auf demokratischem Wege abwenden. Wie geht man mit einem solchen Phänomen um? Wenn ich eine Kritik hätte an der deutschen Politik, dann die, daß man nach dem Dezember 1990, nach den Wahlen in Slowenien und Kroatien, weiterhin von der Fiktion des Zentralstaates ausgegangen ist. Aber das ist überhaupt nicht ein Bonner Fehler, sondern ein allgemein westlicher, insbesondere ein amerikanischer.
Gibt es denn ein Vormachtstreben in der deutschen Politik?
In einer politischen Szenerie wie in Europa, wo so viele Staaten sich miteinander koordinieren müssen, bedarf es der Meinungsführerschaft, eines Leithammels, damit etwas in Bewegung kommt. Ich glaube, Genscher hatte Anfang der 80er Jahre diese Funktion, als es galt , die KSZE über eine schwierige Zeit zu retten. Er hatte sie 1989/90 bestimmt mit dem Konzept einer europäischen Einbindung des vereinten Deutschland. Jetzt gibt es neue Probleme. Zum Beispiel den inneren Ausbau und die Konsolidierung der KSZE, wo wiederum ein „Vorprescher“ gefordert ist.
Teilen Sie die Befürchtung, daß der zum Teil großmannssüchtige Stil unseres Bundeskanzlers künftig die Außenpolitik beherrschen wird?
Ich sehe diese Gefahr nicht, und zwar deshalb, weil die EG-Integration gerade im Bereich der „großen Politik“ nicht mehr national festgelegt wird. Man kann da gelegentlich rhetorisch Akzente in die eine oder andere Richtung setzen. Aber der entscheidende, interessante Punkt ist, daß diese Politik ja das Ergebnis anhaltender Koordination ist. Es kann Situationen geben, wo die Sprache verunglückt, wo möglicherweise manches diplomatische Manöver schiefgeht. Die Gefahr, daß daraus so ein negativer Selbstläufer wird, daß etwas eskaliert, was dann gegebene Strukturen zusammenbrechen läßt, ist eigentlich sehr unwahrscheinlich.
Glauben Sie, daß heute in Deutschland außen- und innenpolitisch ein Rückfall in das selbstgenügsame Milieu früherer Jahre droht?
Es gibt kein Problem des Rückfalls, sondern das der Herausforderungen der nächsten Jahre. Ihnen kann angemessen nur begegnet werden, wenn es zu einer Konzertierung der Politik kommt, auch über die Parteigrenzen hinweg. Man muß Bilanz ziehen und die Lasten fair verteilen. Die Opfer aller gesellschaftlichen Gruppen müssen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Wenn das nicht geschieht, sehe ich schwarz für die deutsche Politik, im Innern wie im Äußeren. Interview: Christian Semler
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