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INTERVIEW„Der Weg zur Chancengleichheit ist sehr weit“

■ Bernhard Wehrens ist Abteilungsleiter für Maßnahmen zugunsten der Behinderten in der EG-Kommission

taz: Über 30 Millionen EG-Bürger leben mit einer Behinderung. Was tut die Kommission, daß der europäische Binnenmarkt auch dieser Bevölkerungsgruppe etwas bringt?

Bernhard Wehrens: Die Kommission will durchsetzen, daß Europa eine kohärente Politik betreibt, daß jeder einzelne Gesetzesvorschlag die Belange der Behinderten berücksichtigt. Sie hat kürzlich beschlossen, daß ein Koordinierungsausschuß alle Aktivitäten der Kommission daraufhin überprüfen muß. Diese Funktion wurde mir im Oktober zugewiesen. Ich nenne ein paar Beispiele: Der europäische Führerschein muß Bedingungen für Taubstumme enthalten, das haben wir durchgesetzt. Thema Mehrwertsteuer: da muß es Ausnahmevorschriften für Taubstumme oder Blinde geben, sie müssen Tonkassetten mehrwertsteuerfrei kaufen können. Kultur, Kreativität, Sport, Tourismus: ein Behinderter ist 24 Stunden täglich behindert und nicht nur am Arbeitsplatz, auch im Freizeitbereich setzen wir uns ein.

Welche Philosophie verfolgt die EG-Kommission in der Behindertenpolitik: Setzt sie eher auf Sondermaßnahmen oder auf Integration?

Wir setzen auf Integration in jeder Linie, nirgendwo gibt es Ausschluß. So arbeiten in meinem Dienst 50 Prozent Behinderte. Ich habe eine blinde Sekretärin, die mit den neuen Technologien in fünf Sprachen Dokumente schreibt. Ich arbeite mit einem völlig gelähmten Juristen. Obwohl er sich nur mit Sprachapparaten ausdrücken kann, vertritt er mich auf Sitzungen im Ausland.

Und wie sieht es in anderen Abteilungen aus? Da arbeiten doch gewiß nicht so viele Behinderte?

Das stimmt. Doch wir versuchen, unseren Einfluß auszudehnen. Erst vor wenigen Tagen habe ich eine Aufnahmeprüfung für Beamte bei der EG- Kommission durchgedrückt, die auch Behinderte berücksichtigt. Wir bemühen uns, die Einstellung von Behinderten überall zu erleichtern. Die Maßnahmen dafür reichen aber noch nicht aus.

Welchen Stellenwert hat ihre Abteilung verglichen mit anderen?

Das europäische Parlament hat dafür gesorgt, daß unsere finanzielle Ausstattung jedes Jahr anstieg. Im Verhältnis zu anderen Budgets ist unseres allerdings so klein, daß wir selbst erstaunt sind, daß wir in den letzten Jahren so viele Aktivitäten entwickeln konnten. Für unser Aktionsprogramm HELIOS 1 standen uns von 1988 bis 1991 25 Millionen Ecu zur Verfügung. Dennoch ist es uns gelungen, auf allen Gebieten eine Sensibilisierung für die Belange der Behinderten zu erreichen, das stimmt mich hoffnungsvoll. Doch der Weg zu einer völligen Chancengleichheit der Behinderten ist noch sehr weit.

Vor einem Jahr hat die EG-Kommission den „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Mobilität und Beförderung“ von behinderten Arbeitnehmern vorgelegt. Worum geht es dabei?

Die Direktive soll sicherstellen, daß behinderten Arbeitnehmern in allen EG-Ländern angepaßte Verkehrsmittel zur Verfügung gestellt werden. Für die schnelle Verwirklichung dieses Vorschlags fehlte bisher allerdings die Unterstützung der Mitgliedsstaaten. Uns ist wichtig, daß Minimalvorschriften festgelegt werden, über die jeder Staat hinausgehen kann. Falls die EG-Staaten diesen Vorschlag nicht einstimmig annehmen, ist die Kommission entschlossen, vor den Gerichtshof zu ziehen und die entsprechende Rechtsgrundlage auslegen zu lassen. Wenn die Direktive einmal Rechtskraft hat, sind die EG-Staaten verpflichtet, behinderten Arbeitnehmern in einem bestimmten Zeitraum entsprechende Verkehrsmittel zur Verfügung zu stellen. Der Anwendungsrahmen ist natürlich beschränkt, weil sich die Direktive nur auf Arbeitnehmer bezieht. Doch sobald sie Rechtskraft erlangt hat, will die Kommission sie ausdehnen auf alle Personen, die in ihrer Bewegung behindert sind. Das müssen wir jedoch auf einer anderen Rechtsgrundlage angehen und es wird wohl zehn, fünfzehn oder sogar zwanzig Jahre brauchen, bis eine solche Vorschrift durchgesetzt wird. Interview: Bettina Kaps

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