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INTERVIEW„Der Hebel darf nicht bei den Patienten ansetzen“

■ Hartmut Reiners ist Leiter des Referats „Grundsatzfragen der Gesundheitspolitik“ im NRW-Sozialministerium

taz: Den gesetzlichen Krankenkassen droht wieder ein kräftiges Defizit. Prompt will das Bonner Gesundheitsministerium die PatientInnen stärker zur Kasse bitten.

Hartmut Reiners: Im Gesundheitsreformgesetz sind die Patienten eigentlich schon hinreichend zur Kasse gebeten worden. Wie die gesamte Entwicklung der Kosten danach gezeigt hat, ist eine Erhöhung der Selbstbeteiligung überhaupt kein geeignetes Mittel, um steuernd in diese ausufernde Kostenentwicklung einzugreifen. Überall wo Selbstbeteiligungen verfügt wurden, sind die Kosten besonders stark gestiegen. Im Zahnersatz zum Beispiel bis zu zwanzig Prozent.

Worauf führen Sie das zurück?

Der Hebel zur Kostendämpfung darf nicht zunächst bei Patienten angesetzt werden, sondern bei den Leistungserbringern. Die Ärzte und Krankenhäuser können über die Menge der zu erbringenen Leistungen, Art und Umfang wesentlich selbst bestimmen. Deshalb muß man bei ihnen ansetzen. Die Patienten haben sehr wenig Einfluß.

Seehofer will acht Milliarden bei den Leistungsanbietern, drei bei den PatientInnen einsparen. Das wird Kranke mit geringem Einkommen besonders hart treffen.

Das ist genau der Punkt. Wenn sich bei einem Kassenarzt mit einem Durchschnittseinkommen von 150.000 Mark die Einnahmen um vielleicht fünf bis zehn Prozent verringern, dann ist das etwas anders als wenn ich eine Rentnerin mit erheblichen Zuzahlungen belaste.

Wo könnte man sinnvoll sparen?

Seehofers Maßnahmenkatalog läßt die Organisationsreform der gesetzlichen Krankenversicherung außer acht. Durch die unterschiedlichen Wahlmöglichkeiten bei den Krankenkassen sammeln sich vor allem sozial Schwache und gesundheitlich Gefährdete in besonderen Kassen und sorgen dort für hohe Beitragssätze. Das muß geändert werden, sonst wird man weiter mit kurzfristigen Kostendämpfungsmaßnahmen arbeiten müssen.

Geht die Tendenz in der Gesundheitsversorgung hin zu einer Regelversorgung, bei der die Krankenversicherung nur noch die notwendigsten Leistungen übernehmen?

Ich befüchte das, und ich halte es für keinen guten Weg. Da kriegen wir sehr schnell eine Zwei- Klassen-Medizin, die auch in keiner Weise billiger wird. Je privater ein Gesundheitswesen organisiert ist, desto teurer wird es. Nur in einem sozialen Krankenversicherungssystem haben die Versicherten in Form der Krankenkassen eine kollektive Organisation, die ihre Interessen bei Preisverhandlungen wahrnimmt. Wenn das entfällt, werden sich die Preise im Gesundheitswesen ganz drastisch erhöhen. Das amerikanische Gesundheitswesen, das weitgehend privat läuft, ist mit Abstand das teuerste in der ganzen Welt. Interview Bascha Mika

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