INTERVIEW: „Die Traumsituation jeder militanten Avantgarde“
■ Dany Cohn-Bendit, grüner Multikulturdezernent der Stadt Frankfurt/Main, zu den Krawallen in Rostock und zur SPD-Wende von Petersberg
taz: Vor einem Jahr eskalierten latenter Rassismus und Ausländerfeindlichkeit in Hoyerswerda. An diesem Wochenende kam es in Rostock zu einer bislang für unmöglich gehaltenen Zusammenrottung rechtsradikaler Jugendlicher und sogenannter Normalbürger — vereint im Kampf gegen Roma und andere AsylbewerberInnen. Was ist los in diesem Land?
Dany Cohn-Bendit: Was ist los im Osten dieses Landes? Ich glaube nämlich nicht, daß dieses Zusammenrotten von Bevölkerung und handelnder Minderheit im Westen so möglich wäre. Das Erschreckende an Hoyerswerda und jetzt an Rostock ist doch die billigende Inkaufnahme dieser Auschreitungen durch die Bevölkerung.
Was sind die Ursachen dafür? Wo kommt dieser Haß her?
Es gibt im Osten eine Jugend, die schon vor dem Mauerfall völlig desorientiert war. Die Vereinigung hat dazu Erwartungshaltungen geweckt, die nicht eingelöst werden konnten. Das hat für Frustration und Aggressivität gesorgt. Der gemeinsame kleinste Nenner zur Abreagierung dieser aufgestauten Aggressionen sind die Einwanderer, die Fremden, die Eindringlinge, weil sie als wandelnde Zielscheiben einfach zu treffen sind. Die autoritäre Erziehung und die autoritären Strukturen in der Ex-DDR spielen dabei genauso eine Rolle wie die realen Auswirkungen der Vereinigung Deutschlands. Der ganze Prozeß der Vereinigung hat ja psychosoziale Affekte produziert und freigesetzt, über die kein Mensch nachgedacht hat. Jetzt kommen diese Affekte unverarbeitet und ungehobelt hoch. Und die sind in ihrer Aggressivität kaum zu bändigen.
Wohin driftet die Gesellschaft in den Trabantenstädten in den neuen Bundesländern? Auf die Bewußtseinslage der Bevölkerung muß doch das Zurückweichen der Polizei am Freitag und Samstag in Rostock fatale Auswirkungen haben. Stellen die Rechtsradikalen an einzelnen Brennpunkten nicht schon die Machtfrage?
Die Vorstellung von staatlicher Macht, wie sie sich in der alten Bundesrepublik in vierzig Jahren entwickelt hat, gibt es im Osten nicht. Und deshalb muß sich die Bundesregierung die Frage stellen, wie sie diese Flüchtlinge im Osten schützen will. Das Schlimmste, was man in einer Situation wie in Rostock verlautbaren lassen kann, ist, daß man nun den Artikel 16 des Grundgesetzes ändern müsse. Es ist perfide, einen solchen Zusammenhang überhaupt nur herstellen zu wollen. Wer das dennoch tut, gibt die Flüchtlinge quasi preis — aus Gründen der politischen Taktik.
Sind solche Äußerungen führender Politiker für die krakeelende Masse nicht geradezu Belege dafür, daß die rechtsradikalen Schläger nur die Speerspitze einer geistigen Grundhaltung auch der politischen Klasse sind?
Das ist die Traumsituation jeder militanten revolutionären Avantgarde — leider unter ganz anderen Vorzeichen. Die Gewalttäter von Hoyerswerda und Rostock sind die radikale Speerspitze einer Mehrheit in der dortigen Bevölkerung, die bewundert, daß die Kids den Mut haben, endlich das zu machen, wozu die Politiker ihrer Ansicht nach unfähig sind.
Der politische Mainstream — die Petersberger Beschlüsse der SPD stehen dafür — bewegt sich gleichfalls nach rechts. Steht heute, zwei Jahre nach der Vereinigung, nicht das ganze politische Koordinatensystem der alten Bundesrepublik, der post-68er Liberalismus, zur Disposition?
Ich glaube nicht, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland kippen werden. Aber die führenden Politiker dieses Landes sind jetzt gefordert. Seiters, Kohl, Engholm, Schäuble und andere müßten jetzt in und zu Rostock klar Stellung beziehen, mit dem Tenor, daß jede Debatte über eine Änderung des Asylrechts solange ausgesetzt wird, solange solche Dinge wie in Rostock passieren. Zweitens müßte eine politische und finanzielle Strategie entwickelt werden, die jenen Kommunen und Ländern volle Unterstützung zusagt, die ihre Flüchtlinge aufnehmen und geschützt und menschenwürdig unterbringen.
Das ist doch Wunschdenken. Du wirst doch nicht im Ernst erwarten, daß Kohl und Company morgen in Rostock gegen den Mob auftreten und der Stadt und dem Land den Geldhahn zudrehen.
Es hat aber auch keinen Sinn, wenn ich hingehe. Die Regierenden haben die körperliche Unversehrtheit aller Menschen in diesem Lande zu garantieren. Und wenn diese Unversehrtheit nicht gewährleistet ist, dann muß man als Politiker mit diesen Leuten dort in Konflikt treten.
Aber der Zug fährt doch in die andere Richtung. Die SPD ist bereit, daß Asylrecht auf dem Altar des Populismus zu opfern — ohne die von dir seinerzeit angeregte Verknüpfung mit einem Einwanderungsgesetz.
In diesem Punkt darf die politische Klasse dem Druck der Straße nicht nachgeben. Das Fatale an dem, was die SPD am Wochenende gemacht hat, ist, daß sie monatelang gesagt hat, daß eine Grundgesetzänderung nichts ändern würde — und jetzt will sie eine Änderung. Das gibt denen in Hoyerswerda und Rostock ungeheueren Auftrieb, frei nach dem Motto: Je mehr wir auf den Putz hauen, desto schneller springen die Politiker.
Zur Zeit halten nur noch die Grünen und einige Flüchtlingshilfegruppen das humanistische Fähnlein hoch. Hat die Partei noch die Kraft und den Einfluß, gestaltend in den Gang der Dinge einzugreifen?
Unsere Aufgabe ist es, dieser inhaltslosen Debatte wieder Inhalte zu geben. Wir müssen die Ungunst der Stunde nutzen und eine komplexe Einwanderungspolitik formulieren — und ein Teil dieser Einwanderungspolitik ist der Artikel 16. Regierung und SPD wurschteln mit irgendwelchen Ministerialbeamten am Asylrecht herum, ohne damit der Gesamtproblematik auch nur ansatzweise gerecht zu werden. Es wurde nichts gesagt zum Staatsangehörigkeitsrecht, nichts zum Wahlrecht, nichts zur Integrationspolitik. Ich glaube, daß trotz der SPD-Entscheidung noch nichts entschieden ist. Die SPD hat sich in Petersberg von zwei sachfremden Argumenten leiten lassen: von der Stimmung und von der angeblichen Notwendigkeit, daß Engholm nun endlich Führungsstärke zeigen müsse.
Und was schlägst du deiner Partei nun vor zu tun?
Wir müßen jetzt eine politische Regierungsalternative formulieren. Und keine Bauchentscheidung gegen die Bauchentscheidung der SPD. Daß die SPD jetzt auch mit dem Märchen vom massenhaften Asylmißbrauch hausieren geht, ist Beleg dafür, daß sich hier tatsächlich absolute Laien mit einem sehr diffizielen Problem beschäftigt haben. So sagt die SPD richtig, daß Kriegsflüchtlinge einen B-Flüchtlingsstatus bekommen sollen. Gleichzeitig suggeriert sie, daß mit einer Grundgesetzänderung die Flüchtlingszahlen nach unten korrigiert werden könnten. Das ist doch alles unausgegorenes Zeug: Es könnten — falls sich die Kriege auf dem Balkan und anderswo ausweiten — viel mehr Kriegsflüchtlinge kommen, als sich das die SPD zur Zeit auch nur vorstellen kann. Das kann gigantisch werden. Und dann wird die SPD jammern und sagen: „Das haben wir uns so aber nicht gedacht.“ Was ich damit sagen will, ist, daß wir endlich anfangen müssen, das Gesamtproblem anzugehen — mit einem umfassenden Lösungsvorschlag. Als Berater und auch als Schlichter zwischen den Lagern stelle ich mich gerne zur Verfügung.
Interview:
Klaus-Peter Klingelschmitt
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