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INTERVIEW: DIE TAZ IM DÜNNDRUCK„Das Zentralorgan des Chaos“

■ Wenn es nach Günther Wallraff ginge, würde die taz staatlich subventioniert

taz: Günther Wallraff, was geht Ihnen bei der Vorstellung durch den Kopf, es würde im kommenden Jahr die taz nicht mehr geben?

Wallraff: Ich könnte morgens länger schlafen. Aber im Ernst, für mich wäre es ein herber Verlust. Es ist doch immer was Aufregendes, die taz zu lesen, weil du nicht schon vorher weißt, was drinsteht. Die taz ist für mich immer noch die Fortsetzung einer antiautoritären Bewegung im weitesten Sinne, ein Traum, der nicht totzutrampeln ist. Eine entideologisierte, kritische, aber auch selbstkritische Zeitung. Das ist etwas für Deutschland so Atypisches, daß es eigentlich subventioniert werden müßte.

Seit der Vereinigung hat die Linke in Deutschland keine große Konjunktur mehr, eine Entwicklung, die natürlich auch an der taz nicht spurlos vorübergegangen ist. Wir fragen uns deshalb schon manchmal, ob die taz nicht ein politisches Relikt aus einer anderen Zeit ist und in das neue Deutschland nicht mehr hineinpaßt.

Laßt euch das nicht einreden. Das Gegenteil ist der Fall. Das Blatt hat sich ja jeweils mitverändert — im schlechten, aber auch im positiven Sinn. In dem Blatt ist Bewegung. Es ist aus einem gewissen Zynismus heraus wieder zu einer engagierten Zeitung geworden. Es ist mehr als ein Forum, tatsächlich ist es oft der beste Journalismus, den wir in Deutschland haben.

Wo sehen Sie denn die politische Rolle der Zeitung — auch vor dem Hintergrund, daß wir wieder einmal feststellen müssen, daß die Zeitung als ökonomisches Produkt ja kaum konkurrenzfähig ist?

Qualität muß halt auch bezahlt werden. Die taz muß den Traum wachhalten und ihn weiter wachsen lassen — ein Zentralorgan der Kreativen, Nonkonformisten und Real-Utopisten. Die taz ist das einzige Blatt, das dieses Forum sein könnte. Wenn es die taz nicht mehr gibt, wird die BRD noch uniformer, angepaßter und bedrohlicher. Es wäre ein Verlust, der sich nicht nur auf die Presselandschaft bezieht, sondern die politische Atmosphäre insgesamt beeinflussen würde. Das Blatt muß einfach bestehen bleiben, selbst wenn man dafür eine Aktion von Tür zu Tür veranstalten muß. Man muß auch Leute bearbeiten, die zur Zeit am liebsten gar nichts mehr an sich herankommen lassen, die sich aus allem heraushalten wollen. Sicher, das Blatt ist aufstörerisch, die Dogmatiker konnten ja mit der taz nie etwas anfangen.

Das Undogmatische an der taz hat sich ja im nachhinein als sehr richtig herausgestellt. Die taz ist aus dem Chaos heraus entstanden, das Zentralorgan des Chaos. Die einzige Wissenschaft, die zur Zeit noch — wenigstens ansatzweise — erklären kann, was stattfindet, ist die Chaosforschung. Nicht die Politologie oder die Ökonomie. Wenn eine nicht mehr haltbare Ordnung durch etwas Neues ersetzt werden muß, dann geschieht das aus dem gleichzeitig zerstörerischen wie schöpferischen Akt des Chaos heraus. Da ist die taz die Widerspiegelung dessen, was passiert. In 100 Jahren wird man euch wahrscheinlich als Dünndruck neu herausgeben.

An welchen Punkten innerhalb der deutschen Gesellschaft würden Sie als erstes einen neuen Beginn einer emanzipatorischen Bewegung erwarten, wohin würden Sie zuerst schauen?

Sicher in die ökologische Richtung. Ökologisch gibt es eine neue Internationale, weltweit und bis weit in konservative Kreise herein. Da sind sich letztlich alle, die nicht gekauft oder abhängig oder abgestumpft sind, einig. Es ist noch nicht durchsetzbar, weil die Machtkartelle es noch nicht zulassen. Der Konsens über die Probleme aber ist längst da. Dann sehe ich es noch im Aufbrechen der Geschlechterrollen. Die Kinder wachsen doch heute schon in einem anderen Rollenverhalten auf. Darüber hinaus wird sich wohl die Bedeutung der Parteien entscheidend verändern, werden neue politische Strukturen von unten aufgebaut werden müssen — ein Prozeß, in dem die taz wieder eine wichtige Rolle spielen könnte. Ich sehe, daß die taz jetzt in einer Durststrecke ist. Wenn dieses Blatt aber noch drei Jahre durchhält, kann es ganz schnell von 60.000 auf weit mehr als 200.000 kommen, wenn die Zeit dafür reif ist. Die Zeitung wird sicher bald auch wieder in ihrer Einzigartigkeit erkannt werden. Interview: Jürgen Gottschlich

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